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Ged stand schweigend. Woher der Drache von dem Schatten wußte, den er, Ged, freigesetzt hatte, das konnte er nur ahnen. Auch woher er dessen Namen kannte, war ihm ein Rätsel. Der Erzmagier hatte gesagt, daß der Schatten keinen Namen hätte. Drachen jedoch haben ihr eigenes Wissen. Sie sind nämlich sehr viel älter als die Menschen. Wenige Menschen nur können ahnen, was ein Drache weiß und wie er dieses Wissen erwarb. Diese wenigen sind die Drachenfürsten. Eines nur war sicher, und davon war Ged überzeugt: Wenn der Drache die Wahrheit sprach und ihm den Namen seines schattenhaften Peinigers nennen konnte, damit er, Ged, Macht über dieses Unding bekäme, so würde der Drache nur dann bereit dazu sein, dies zu tun, wenn es seinen eigenen Zwecken diente.

»Selten kommt es vor«, sagte der junge Mann endlich, »daß Drachen gewillt sind, den Menschen eine Gunst zu erweisen.«

»Aber es ist allgemein üblich«, antwortete der Drache, »daß Katzen mit Mäusen spielen, bevor sie sie töten.«

»Ich kam nicht hierher, um zu spielen, oder um als Spielzeug zu dienen, sondern um zu verhandeln.«

Wie ein blankes Schwert, nur fünfmal länger als ein Schwert, hob sich der Schwanz des Drachen in die Höhe, und mit der Spitze, die den Turm überragte, beschrieb er einen weiten Bogen und legte ihn zurück auf seinen gepanzerten Rücken, eine Bewegung, die auch Skorpionen eigen ist. Trocken war seine Stimme: »Ich verhandle nicht. Ich nehme nur. Was glaubst du denn zu besitzen, das ich, wenn es mir gefällt, nicht wegnehmen könnte?«

»Sicherheit. Und zwar deine Sicherheit. Schwöre, daß du von Pendor aus nie östlich fliegen wirst, und ich werde schwören, daß ich dir keinen Schaden mehr zufügen werde.«

Aus dem Rachen des Drachen kam ein prasselndes Geräusch. Wie eine weit entfernte Steinlawine klang es, wenn bröckelndes Felsgestein den Berg hinunterfällt. Das Feuer tanzte auf seiner dreifach gespaltenen Zunge. Er reckte sich noch höher, eine drohende Gestalt über den Ruinen.

»Du bietest mir Sicherheit an! Du wagst mir zu drohen! Womit?«

»Mit deinem Namen, Yevaud.«

Geds Stimme zitterte, als er den Namen sagte, aber er sprach laut und klar. Beim Klang des Namens erstarrte der Drache. Eine Minute verstrich, dann noch eine. Ged, in seinem lächerlich kleinen Boot stehend, lächelte. Sein Leben und den Erfolg seines Unternehmens hatte er aufs Spiel gesetzt um einer Vermutung willen, die er den alten Geschichtsbüchern und den Drachenkunden auf Rok entnommen hatte, daß nämlich der Drache auf Pendor derselbe war, der zu Zeiten Elfarrans und Morreds den Westen Osskils verwüstete, bis der in der Namenskunde erfahrene Zauberer Elt ihn aus Osskil vertrieben hatte. Ged hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen.

»Wir können uns miteinander messen, Yevaud. Du hast die Stärke, ich habe deinen Namen. Können wir uns jetzt einigen?«

Noch immer schwieg der Drache.

Ungezählte Jahre lang hatte er hier auf der Insel gehaust, wo Edelsteine und goldene Harnische zwischen Staub, Steinen und Gebeinen verstreut lagen. Er hatte zugeschaut, wie seine schwarze Eidechsenbrut in den Hausruinen spielte und wie seine Jungen versuchten, von den Klippen herunterzufliegen. Lange, zu lange hatte er in der Sonne gelegen und geschlafen. Keine Stimme und kein Segel hatten ihn gestört. Yevaud war alt geworden. Nun fiel es ihm schwer, sich aufzuraffen und sich diesem Zauberknaben, diesem geringen, schwächlichen Feind zu stellen, vor dessen Stab er, der alte Drache, erzitterte.

»Neun Steine kannst du dir wählen aus meinem Schatz«, sagte er schließlich, und seine Stimme kam zischend und züngelnd aus seinem langen Rachen. »Die besten kannst du dir nehmen. Wähle! Und dann geh fort!«

»Ich will deine Steine nicht, Yevaud.«

»Was ist aus der Gier des Menschen geworden? Früher, im Norden, begehrte man über die Maßen das funkelnde Gestein. Ich weiß, was du begehrst, Zauberer. Auch ich kann dir Sicherheit bieten, denn ich weiß, was dich retten kann. Ich allein weiß, was dich retten kann. Ein Ungeheuer folgt dir. Ich kann dir seinen Namen nennen.«

Ged hörte sein Herz klopfen. Er umklammerte seinen Stab und verharrte reglos wie der Drache. Er bezwang eine plötzliche, unerwartete Hoffnung.

Er war nicht ausgezogen, um Rettung für sich selbst zu suchen. Und nur einen einzigen Trumpf hielt er in seiner Hand. Er gab die flüchtige Hoffnung auf und tat das, was er tun mußte.

»Nicht darum bitte ich, Yevaud.«

Als er den Namen aussprach, war es ihm, als halte er das mächtige Tier an einer feinen, dünnen Leine, die seinen Hals eng umschloß. Im Blick des Drachen, der auf ihm ruhte, spürte Ged die uralte Tücke und das auf so reichlicher Erfahrung beruhende Wissen des Drachen. Vor seinen Augen sah er die stählernen Krallen, jede so lang wie eines Mannes Unterarm, und den steinharten Panzer, und er wußte um das vernichtende Feuer, das im Rachen des Drachen verborgen war; doch er spürte, wie sich die Leine immer enger zusammenzog.

Er sprach noch einmaclass="underline" »Yevaud! Schwöre bei deinem Namen, daß du und deine Söhne nie ins Inselreich kommen werden.«

Flammen schlugen plötzlich hell und laut aus dem Schlund des Drachen: »Ich schwöre es bei meinem Namen.«

Die Ruhe kehrte zurück zur Insel, und Yevaud senkte sein mächtiges Haupt.

Als er wieder aufblickte, war der Zauberer bereits verschwunden. Sein Segel sah aus wie ein kleiner Fleck, der nach Osten über die Wellen flog, dahin, wo die üppigen, mit Schmuckstücken beladenen Inseln des Innenmeeres lagen. Vor Wut kochend erhob sich der alte Drache von Pendor und krümmte so ungestüm seinen mächtigen Leib, daß der Turm zerbrach. Heftig schlug er mit seinen ausgebreiteten Schwingen, die von einem Ende der zerstörten Stadt bis ans andere Ende reichten. Aber sein Schwur hielt ihn gebannt, und er flog weder damals noch je in der Zukunft hinüber zum Inselreich.

GEJAGT

Als Pendor hinter dem Rand des Meeres verschwunden war, fühlte Ged, nach Osten schauend, wie der Schatten sich wieder in sein Herz schlich. Es war schwer, nach der handgreiflichen Gefahr, die der Drache dargestellt hatte, wieder diesem hoffnungslosen, körperlosen Grauen ausgeliefert zu sein. Er ließ den magischen Wind erschlaffen und segelte mit dem gewöhnlichen Wind weiter, denn nichts drängte ihn vorwärts. Was er nun tun sollte, wußte er nicht. Er mußte fliehen, wie der Drache gesagt hatte, aber wohin? Nach Rok? Dort wäre er jedenfalls geschützt, und vielleicht konnten ihm die Weisen einen Rat erteilen.

Zunächst aber mußte er zurück nach Untertorning und den Leuten der Insel berichten, was sich zugetragen hatte. Als bekannt wurde, daß er wieder zurückgekehrt sei, schon fünf Tage nach seiner Abfahrt kamen alle Männer und die halbe Stadt angerudert oder herbeigelaufen und standen und starrten, während sie ihm zuhörten. Er erzählte alles, genau wie es sich zugetragen hatte, und ein Mann meinte: »Aber wer kann uns denn bezeugen, daß dieses Wunder wirklich geschehen ist, daß Drachen wirklich getötet und ihre Pläne vereitelt wurden? Was machen wir, wenn…?«

»Sei still!« befahl ihm der Stadtälteste barsch, denn er und die meisten Leute dort wußten, daß ein Zauberer zwar auf listige Art wahr sprechen und doch die Wahrheit für sich behalten kann. Wenn aber ein Zauberer etwas behauptet, so ist es immer wahr. Zauberer besitzen diese Fertigkeit. Die Leute standen und staunten, und allmählich begriffen sie, daß sie nichts mehr zu fürchten hatten, und eine große Freude erfüllte sie. Sie umringten ihren jungen Zauberer und wollten alles noch einmal hören. Mehr Inselleute kamen herbeigelaufen, und Ged mußte alles noch einmal wiederholen. Aber als es Abend wurde, mußte er seine Geschichte nicht mehr erzählen. Sie konnten das jetzt viel besser als er. Der alte Liedermacher sang bereits das Sperberlied zu einer altbekannten Melodie. Freudenfeuer erhellten die Nacht, nicht nur in Untertorning, sondern auch in den Städten östlich und südlich davon. Fischer riefen sich die Neuigkeit von Boot zu Boot zu, und von Insel zu Insel hörte man es schallen: Kein Unheil droht mehr, nie wieder werden die Drachen von Pendor kommen!