Körperlos war dieses Wesen, blind bewegte es sich im Sonnenlicht. Es kam aus einer Tiefe, wo Zeit und Raum aufgehoben sind, wo ewige Finsternis herrscht. Unbeholfen quälte es sich durch die Tage und über die Meere dieser sonnenhellen Welt. Nur in Träumen und in der Dunkelheit war es als Schatten erkennbar. Noch hatte es keinen Körper, noch war es kein Wesen, das vom Licht der Sonne erfaßt werden konnte; wie es im Hodlied geschrieben steht:
»Der Tag begann und schuf Land und Meer, aus der Schattenwelt löste er Wesen und Dinge, Träume trieb er zurück in das Reich der Finsternis.«
Aber sollte es dem Schatten gelingen, ihn einzuholen, dann konnte er ihm seine Macht entwinden, dann konnte er ihm Wärme und Leben aus seinem Körper saugen und ihn zum willenlosen Werkzeug machen.
Am Ende jedes Pfades, den er einzuschlagen erwog, drohte ihm dieses Unheil, und Ged wußte auch, daß er in sein Verderben gelockt werden konnte; denn der Schatten wurde immer mächtiger, je mehr er sich ihm näherte, und war vielleicht jetzt schon stark genug, um unheilbringende Mächte oder böse Menschen in seine Dienste zu zwingen — indem er ihnen Falsches vorspiegelte oder durch die Stimme eines Freundes zu ihnen sprach. Es konnte sein, daß er schon jetzt, in diesem Augenblick, von einem der Männer Besitz ergriffen hatte, die in dem großen dunklen Saal des Seeheims schliefen; und dort, in irgendeiner finsteren Seele, wartete das Unding und beobachtete Ged und genoß seine Schwäche, seine Unsicherheit, seine Furcht.
Er konnte es nicht mehr aushalten. Er mußte dem Zufall vertrauen und fliehen, wohin er ihn auch treiben möge. Im ersten Morgengrauen erhob er sich und ging unter den verblassenden Sternen hinunter zum Anlegeplatz von Serd, entschlossen, mit dem ersten besten Schiff, das ihn aufnahm, abzufahren. Eine Galeere wurde gerade mit Turbieöl beladen und sollte bei Sonnenaufgang nach Havnor ablegen. Ged fragte den Kapitän, ob er ihn mitnehmen könne. Ein Zauberer ist auf den meisten Schiffen willkommen und erhält freie Fahrt. Gern nahm man Ged an Bord, und kurz darauf stach das Schiff in See. Beim ersten Heben der Ruder fühlte sich Ged schon erleichtert, und die Trommelschläge, die den Ruderrhythmus bestimmten, waren Musik in seinen Ohren und füllten sein Herz mit neuem Mut.
Doch was er in Havnor tun und wohin er von dort aus fliehen sollte, das wußte er nicht. Sich nördlich zu halten, schien ihm nicht das schlechteste zu sein. Er war selbst vom Norden, und vielleicht fand er ein Schiff, das nach Gont segelte, und er konnte Ogion besuchen. Vielleicht fand er auch ein Schiff, das in die Außenbereiche fuhr, so weit hinaus, daß der Schatten ihn verlieren würde und die Jagd aufsteckte. Außer diesen vagen Ideen hatte er keine Pläne, auch sah er keinen bestimmten Weg vor sich liegen. Er wußte nur, daß er fliehen mußte.
Vor Sonnenuntergang des nächsten Tages hatte das von vierzig Rudern getriebene Schiff hundertfünfzig Meilen über die winterliche See zurückgelegt. Im Hafen von Orrimy an der Ostküste von Hosk legten sie an, denn diese Handelsschiffe des Innenmeers bleiben in Küstennähe und legen gern, wenn es sich einrichten läßt, über Nacht in Häfen an. Ged ging an Land, und er wanderte ziellos und in Gedanken verloren durch die engen steilen Gassen der Hafenstadt.
Orrimy ist eine sehr alte Stadt mit wuchtigen, aus Stein und Backstein gebauten Häusern. Sie ist mit einer Stadtmauer umgeben, die Schutz gegen die raubgierigen Fürsten des Inlandes bietet. Die Lagerschuppen glichen Festungen, und die Häuser der Kaufleute haben ebenfalls Türme und Mauern. Für Ged jedoch, der planlos durch die Straßen wanderte, waren die monströsen Villen nur Schleier, hinter denen leeres Dunkel gähnte, und die geschäftigen Menschen, die ihm begegneten, schienen nicht aus Fleisch und Blut zu sein, sondern nur stumme Schatten in menschlicher Gestalt.
Als die Sonne untergegangen war, kehrte er zum Schiff zurück, und selbst dort, im roten Abendlicht und in der frischen abendlichen Brise, schien die Welt trübe und von dumpfer Lautlosigkeit zu sein.
»Wohin gehen Sie, Herr Zauberer?«
Die Worte wurden plötzlich von hinten an ihn gerichtet. Ged drehte sich um und sah einen graugekleideten Mann vor sich stehen, der einen Stab trug, aber es war kein Zauberstab. Das Gesicht des Fremden war gegen das rote Abendlicht mit der Kapuze bedeckt, aber Ged spürte, wie er in die unsichtbaren Augen des Fremden blickte. Er trat einen Schritt zurück und hob seinen Stab zwischen sich und dem Fremden hoch.
Der Mann fragte gütig: »Wovor fürchten Sie sich?«
»Vor dem, das mich verfolgt.«
»O ja? Aber ich bin nicht Ihr Schatten.«
Ged gab keine Antwort. Er wußte, daß dieser Mann bestimmt nicht das war, was er fürchtete. Er war weder ein Schatten noch ein Geist, noch ein Gebbethgeschöpf. Inmitten dieser Welt, die Ged lautlos und trübe umgab, hatte dieser Mann seine Stimme behalten, auch seine Gestalt schien feste Umrisse zu haben. Nun schlug er seine Kapuze zurück. Sein Haupt war seltsam kahl und zerfurcht, und sein Gesicht trug verwitterte Züge. Obgleich seine Stimme nicht alt geklungen hatte, sah er aus wie ein alter Mann.
»Ich kenne Sie nicht«, sprach der Mann in Grau, »doch vielleicht ist es kein Zufall, der uns zusammenführt. Ich hörte einst vom Schicksal eines jungen Mannes mit vernarbtem Gesicht, der durch die Dunkelheit gehen mußte, um ein großes Reich zu gewinnen, hoch ist er gestiegen. Ob es Ihre Geschichte ist, das weiß ich nicht. Aber das will ich Ihnen sagen: Gehen Sie an den Hof von Terrenon, wenn Sie ein Schwert brauchen, mit dem Sie gegen Schatten kämpfen können. Ein Stab aus Eibenholz wird Ihnen wenig nutzen.«
Hoffnung und Mißtrauen kämpften in Geds Seele, als er den Worten lauschte. Ein Zauberer lernt bald, daß er nur selten Leute aus Zufall trifft. Ein gutes oder böses Geschick hat meist die Hand im Spiel dabei.
»In welchem Land befindet sich der Hof von Terrenon?«
»In Osskil.«
Beim Klang dieses Namens sah Ged einen kurzen Augenblick lang vor seines Geistes Auge einen schwarzen Raben auf grünem Rasen hocken, der ihn aus blanken Augen von der Seite her ansah und zu ihm sprach. Die Worte jedoch konnte er nicht hören.
»Dies Land hat einen unheilvollen Namen«, sagte Ged, und den Mann unverwandt im Auge behaltend, versuchte er, ihn abzuschätzen. Es umgab ihn etwas, das auf einen Zauberer, selbst auf einen stabtragenden Zauberer, schließen ließ. Er sprach mit sicherer, fester Stimme, und doch lag etwas Gedrücktes, Unbestimmtes in seinem Wesen, fast wie ein Kranker sah er aus, oder wie ein Gefangener oder Sklave.
»Sie sind von Rok«, antwortete er. »Die Zauberer dort nennen alle Zaubereien, die nicht von ihnen kommen, unheilvoll.«
»Wer sind Sie?«
»Ein Reisender, ein Handelsvertreter aus Osskil. Ich bin geschäftlich hier«, sagte der Mann in Grau. Als Ged keine weiteren Fragen an ihn richtete, wünschte er ihm freundlich eine gute Nacht und stieg die Stufen der engen Gasse oberhalb der Piers hinauf.
Ged wandte sich um, unentschlossen, ob er dem Ratschlag folgen solle oder nicht. Er blickte nach Norden. Das rote Licht auf den Bergen und über der windigen See war erloschen. Graue Dämmerung hüllte alles ein, und die Nacht folgte ihr auf den Fersen.
Plötzlich entschlossen, lief Ged am Ufer entlang zu einem Fischer, der in seinem kleinen Boot stehend Netze zusammenlegte, und rief ihm zu: »Wissen Sie, ob hier im Hafen ein Schiff liegt, das nach Norden fahrt — nach Semel oder in die Enladen?«
»Das Langschiff dort drüben ist von Osskil, vielleicht hält es irgendwo in den Enladen an.«
Ged eilte weiter. Er rannte auf das Schiff zu, auf das der Fischer gezeigt hatte. Es war ein Langschiff mit sechzig Rudern und lag wie eine Schlange auf dem Wasser. Der hohe Bug war mit Schnitzereien und eingelegten Lotosmuscheln verziert; die Ruderluken waren rot gestrichen, und auf jeder war die Rune Sifl schwarz eingeritzt. Gefährlich und schnell sah es aus, abfahrbereit lag es am Kai, und die Mannschaft war schon an Bord. Ged suchte den Kapitän auf und fragte ihn, ob er nach Osskil mitfahren könne.