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»Wie weit ist es noch?« fragte Ged, nachdem sie einige Meilen zurückgelegt hatten, ohne ein Dorf oder ein Bauernhaus zu erblicken. Er war besorgt, denn sie hatten keine Nahrung bei sich. Skihor, seine Kapuze ebenfalls hochziehend, drehte sich kurz um und sagte: »Nicht weit.« Sein Gesicht war bleich und abstoßend häßlich, mit groben, rohen Zügen, aber Ged fürchtete sich vor keinem Menschen, höchstens vor dem Ort, an den ihn ein solcher Mensch führen konnte. Er nickte, und sie gingen weiter. Der Weg war wie eine Narbe in der dünnen Schneedecke zwischen den kahlen Büschen dieser Öde. Ab und zu sah man Spuren im Schnee, die ihren Pfad überquerten oder zur Seite abbogen. Da der aus den Schornsteinen von Neschun aufsteigende Rauch von den Hügeln verdeckt wurde, die im späten Licht des Nachmittags hinter ihnen verschwammen, gab es keinen Anhaltspunkt mehr, wohin der Weg führte und woher sie gekommen waren. Nur der Wind blies ständig aus dem Osten. Als sie mehrere Stunden gewandert waren, glaubte Ged weit in der Ferne auf den Hügeln, die gegen Nordwesten vor ihnen lagen, eine winzige Schramme, weiß wie ein Zahn, wahrzunehmen, die sich vom Himmel abhob. Aber die Tage waren schon kurz, und das Licht ließ rasch nach, und auf der nächsten Erhöhung sah Ged das Ding, ob Turm oder Baum oder sonstwas, nicht klarer als zuvor. »Gehen wir dorthin?« fragte er und deutete auf den fernen Punkt.

Aber Skihor antwortete nicht, sondern trottete weiter in seinem grobgewebten Umhang mit der spitzen, pelzbesetzten, typisch osskilischen Kapuze. Ged schritt an seiner Seite. Weit waren sie schon gelaufen, und Müdigkeit durchzog seine Glieder von dem stetigen Gehen und von der harten Arbeit, die er während der vergangenen zehn Tage auf dem Schiff hatte verrichten müssen. Es kam ihm vor, als sei er schon ewig neben diesem schweigsamen Wesen hergelaufen und als müsse er in alle Ewigkeit so weitergehen, in einem lautlosen Land, über das die Dunkelheit sich senkte. Seine Wachsamkeit erlahmte, der Zweck seiner Reise wurde unklar. Er ging wie in einem endlosen Traum, ohne Ziel.

Der Otak bewegte sich in seiner Tasche, und eine leichte, vage Furcht begann, sich in Ged zu regen. Er zwang sich zum Reden: »Dunkelheit kommt und Schnee. Wie weit noch, Skihor?«

Minuten verstrichen, dann antwortete der andere, ohne sich umzuwenden: »Nicht weit.«

Aber seine Stimme klang nicht menschlich, sondern wie die eines Tieres, das stimmlos und ohne Lippen versucht, Laute auszustoßen.

Ged blieb stehen. Ringsum dehnten sich die kahlen Hügel im späten, dämmrigen Licht des Tages. Schnee fiel spärlich, lautlos. »Skihor!« sagte er, und der andere hielt an und wandte sich ihm zu. Unter der spitzen Kapuze war kein Gesicht.

Bevor Ged ein Wort sprechen oder seine Macht sammeln konnte, sagte das Gebbeth in seiner tonlosen, rauhen, knurrenden Stimme: »Ged!«

Nun konnte der junge Mann keinen Verwandlungszauber mehr wirken, sondern war in seinem eigensten Wesen gefangen und dem Gebbeth schutzlos preisgegeben. Auch Hilfe konnte er in diesem unbekannten Land, wo ihm alles und alle fremd waren, nicht herbeirufen, keiner würde zu ihm kommen. Hier stand er, allein, und nur der Stab aus Eibenholz, den seine rechte Hand umklammert hielt, war zwischen ihm und seinem Feind.

Das Wesen, das Skihors Geist vernichtet und seinen Körper angenommen hatte, machte einen Schritt auf Ged zu; seine Arme streckten sich suchend nach ihm aus. Entsetzen und Wut füllten Ged, und er schwang seinen Stab in die Höhe und ließ ihn pfeifend auf die Kapuze, unter der das Schattenwesen verborgen war, heruntersausen. Kapuze und Umhang fielen unter diesem harten Schlag zusammen, als wären sie mit Wind gefüllt gewesen; sich krümmend und um sich schlagend, erhob es sich wieder. Der Körper eines Gebbeth besitzt keine greifbaren Substanzen, er ist nur eine Hülle oder ein Dunst in menschlicher Gestalt, ein unwirklicher Körper, der einen wirklichen Schatten umschließt. Ruckend und zuckend, wie vom Wind geschüttelt und aufgeblasen, breitete der Schatten seine Arme wieder aus und kam auf Ged zu, um ihn zu packen, wie er es damals auf dem Rokkogel getan hatte. Gelänge ihm das, dann würde er die Hülle von Skihor abwerfen und in Ged schlüpfen und ihn von innen heraus verschlingen, um ihn ganz zu besitzen, denn das war sein ausschließliches Trachten. Ged schlug wieder auf ihn ein mit dem schweren Stab, der Feuer gefangen hatte und glühte, und er trieb ihn zurück, aber er kam wieder vorwärts, und wiederum schlug ihn Ged, aber dann mußte er den lodernden, rauchenden Stab fallen lassen, denn seine Hand war durch Brandwunden verletzt. Ged trat zurück, dann drehte er sich blitzschnell um und rannte davon.

Er rannte, und nur ein paar Schritte hinter ihm rannte das Gebbeth, das ihn zwar nicht einholen, dem er aber auch nicht entkommen konnte. Ged blickte nicht einmal zurück. Er rannte unentwegt weiter durch das weite dämmernde Land, in dem es kein Versteck gab. Einmal hörte er, wie das Gebbeth ihn mit krächzender Stimme beim Namen rief, und er wußte, daß er diesem Ding gegenüber keine Zauberkräfte besaß. Das Gebbeth aber hatte keine Macht über seine körperlichen Kräfte und konnte ihn nicht zwingen, einzuhalten. Er rannte und rannte, und die Lunge brannte ihm in der Brust bei jedem Atemzug.

Die Nacht schloß sich um den Verfolgten und den Verfolger. Feiner Schnee deckte den Pfad zu, den Ged kaum mehr erkennen konnte. Sein Blut hämmerte hinter seinen Schläfen, sein Atem stach heiß in seiner Kehle, er konnte nicht mehr richtig laufen; er stolperte und strauchelte, doch sein unermüdlicher Feind schien nicht in der Lage zu sein, ihn einzuholen, er folgte ihm nur hart auf den Fersen. Das Gebbeth hatte angefangen, ihm zuzuflüstern und zuzuraunen. Es rief ihn zu sich, und jetzt wußte er, daß diese Stimme sein ganzes Leben lang in seinen Ohren gewesen war, daß sie gerade unterhalb der Grenze des Hörbaren gelegen hatte, aber jetzt konnte er sie vernehmen, und er mußte nachgeben, er mußte auf sie hören, er mußte anhalten. Aber er quälte sich weiter, er schleppte sich einen langen, kaum sichtbaren Hang hinauf. Dort, irgendwo vor ihm, glaubte er ein Licht wahrzunehmen, und es schien ihm, als riefe ihm eine Stimme zu von dort vorne, irgendwo über ihm: »Komm, komm!«

Er versuchte zu antworten, aber seine Stimme versagte ihm. Das schwache Licht wurde deutlicher, es fiel durch eine Toreinfahrt direkt vor ihm. Mauern konnte er nicht sehen, nur das Tor. Bei seinem Anblick hielt er an, und das Gebbeth riß seinen Umhang an sich und fingerte an seinen Seiten herum, um ihn von hinten zu packen. Ged raffte seine letzte Kraft zusammen und warf sich durch das schwach schimmernde Tor. Er versuchte noch, sich umzudrehen und das Tor hinter sich zuzuschlagen, damit das Gebbeth nicht hereinkomme, aber seine Kräfte verließen ihn. Er taumelte und griff nach einem Halt. Licht fiel auf ihn und verschwamm vor seinen Augen. Er fühlte, wie er hinfiel, und im Fallen merkte er noch, wie er aufgefangen wurde; aber er war völlig erschöpft, und seine Sinne schwanden ihm.

DER FALKENFLUG

Ged erwachte und blieb eine Weile liegen, ohne sich zu regen. Er genoß es, überhaupt wieder zu erwachen, und er genoß das Licht, das ihn umgab, das helle, gewöhnliche Licht des Tages. Irgendwie hatte er das Gefühl, als schwebe er auf diesem Licht oder als treibe er in einem Boot auf stillen Gewässern. Endlich aber merkte er, daß er in einem Bett lag. Allerdings war es ein Bett, das ihm völlig fremd und ungewohnt war. Es lag auf einem Rahmen, der auf vier hohen, geschnitzten Beinen stand. Die seidenen Matratzen waren mit Daunen gefüllt, daher rührte wohl das Gefühl des Schwebens, und über allem breitete sich ein karminroter Baldachin, wohl um den Luftzug abzuhalten. Zu beiden Seiten des Bettes waren die Vorhänge zurückgebunden. Ged sah einen Raum, dessen Wände und Boden aus Stein waren. Durch drei hohe Fenster sah er das kahle, braune Moor, stellenweise schneebedeckt, im gedämpften Licht der Wintersonne liegen. Hoch mußte dieses Zimmer liegen, denn weit konnte er das Land überblicken.