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Die Ankunft von Fremden rief Aufregung und Bestürzung unter der Bevölkerung hervor, denn noch niemals hatte sich ein Boot zu dieser Zeit in die Gewässer um Astowell gewagt. Die Frauen blieben in den Lehmhütten und lugten aus ihren Türen hervor, während sie ihre Kinder hinter ihren Röcken verbargen, und zogen sich voll Furcht in ihre Hütten zurück, als die Fremden den Strand heraufkamen. Die Männer, hager und schlecht gekleidet gegen die Witterung, schlossen schweigend einen Kreis um Vetsch und Ged. Jeder hielt eine Steinaxt oder ein aus Muscheln gefertigtes scharfes Messer in der Hand. Aber als sie ihre Furcht überwunden hatten, nahm das Fragen kein Ende. Selten geschah es, daß ein Schiff, selbst von Soders oder Rolameny, bei ihnen anlegte, denn sie hatten nichts, was sie gegen Bronze oder andere begehrte Waren eintauschen konnten, selbst Holz hatten sie keines. Ihre Boote waren aus Tierhäuten gefertigt, die sie über ein Schilfgeflecht spannten, und es gehörte viel Mut dazu, darin nach Gosk oder Kornay, den nächstgelegenen Inseln, zu fahren. Ganz allein wohnten sie hier, am Rand der Seekarte. Sie besaßen weder Zauberweib noch Zauberer und erkannten die Stäbe der jungen Männer nicht ob ihrer Bedeutung, sondern bewunderten sie ob des Materials, aus dem sie gefertigt waren: Holz. Ihr Häuptling, oder Dorfältester, war sehr alt, und er allein hatte schon einmal einen Menschen aus dem Inselreich gesehen. Ged betrachteten sie wie ein Wunder, und die Männer hielten ihre Knaben hoch, damit sie den Mann aus dem Inselreich sehen und sich später, wenn sie einmal alt waren, daran erinnern konnten. Von Gont hatten sie noch nie gehört, nur von Havnor und Éa, und sie betrachteten Ged als einen Fürsten von Havnor. Er tat sein möglichstes, um ihre Fragen nach der Weißen Stadt, die er selbst noch nie gesehen hatte, zu beantworten. Aber er hatte keine Ruhe, und als es immer später wurde und sie in der Wärme des scharf riechenden, qualmenden, von Ziegendung und Schilfbündeln genährten Feuers in der Versammlungshütte saßen, fragte er die Männer des Dorfes: »Was liegt östlich von der Insel?«

Keiner sprach, einige grinsten, andere blickten finster.

Der Dorfälteste antwortete: »Das Meer.«

»Weiter draußen liegt kein Land mehr?«

»Dies hier ist Letztland. Es gibt kein anderes Land weiter draußen, nur Wasser, von hier bis ans Ende der Welt.«

»Das sind weise Männer, Vater«, sagte ein junger Mann. »Das sind Seefahrer, Reisende. Vielleicht wissen die von einem Land, das wir nicht kennen.«

»Östlich von hier gibt es kein Land«, beharrte der Alte, blickte Ged durchdringend an und sprach kein Wort mehr mit ihm.

Die Nacht verbrachten die Freunde in der rauchigen Wärme der Hütte. Vor Tagesanbruch weckte Ged seinen Freund und flüsterte: »Estarriol, wach auf! Wir können hier nicht bleiben, wir müssen fort.«

»Warum so früh?« fragte Vetsch schlaftrunken.

»Nicht früh — spät. Ich bin zu langsam gefolgt. Er hat einen Weg gefunden, auf dem er mir entschlüpfen und mich in den Untergang treiben kann. Er darf mir nicht entschlüpfen, denn ich muß ihm folgen, wie weit er auch gehen mag. Wenn ich ihn verliere, dann bin ich verloren.«

»Wohin folgen wir ihm?«

»Nach Osten. Komm! Ich habe die Wasserflaschen gefüllt.«

Und so verließen sie die Hütte, während noch alles schlief. Nur ein kleines Kind schrie irgendwo in der Dunkelheit einer Hütte und verstummte dann wieder. Beim schwachen Licht der Sterne suchten sie den Pfad, der hinunter zur Bachmündung führte, und banden das Boot Weitblick von dem Felsen los, an dem es angebunden war, und gemeinsam schoben sie es ins schwarze Wasser. Gen Osten segelnd, gelangten sie hinter Astowell auf die hohe See, am ersten Tag des Brachmondes, noch bevor die Sonne aufging.

Den ganzen Tag lang war der Himmel über ihnen klar. Der Wind der Welt blies kalt und böig aus dem Nordosten, doch Ged hatte einen magischen Wind gewirkt. Es war das erste Mal, seit er die Insel der Hände verlassen hatte, daß er eine magische Handlung vollbrachte. Das Schiff erzitterte vom Anprall der mächtigen, rauschenden, sonnenhellen Wogen, aber es hielt sich so tapfer, wie sein Besitzer prophezeit hatte, und es folgte dem Zauberwind so willig wie ein zauberdurchwirktes Schiff von Rok.

Ged redete kein Wort an diesem Morgen, außer um die Macht des Windes zu erneuern und die Leinwand des Segels mit Zauberworten zu verstärken. Vetsch versuchte, im Vorderteil des Bootes zu schlafen, was ihm nicht so recht gelang, denn er spürte die Unruhe seines Freundes. Um die Mittagszeit aßen sie. Ged teilte nur wenig aus, und es war klar, was dies bedeutete, doch beide kauten an ihrem kleinen Stück gesalzenem Fisch und an ihrem Weizenküchlein, und keiner sagte ein Wort.

Den ganzen Nachmittag lang bahnten sie sich ihren Weg nach Osten, ohne sich zurückzuwenden, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Einmal nur unterbrach Ged das Schweigen und sagte: »Gehörst du zu denen, die glauben, daß es kein Land außerhalb der Außenbereiche gibt, oder glaubst du, daß es andere Inselbereiche oder riesige, unerforschte Länder auf der anderen Seite der Erde gibt?«

»Jetzt im Augenblick«, sagte Vetsch, »gehöre ich zu denen, die glauben, daß die Welt ein Teller ist und daß der, der so weit hinausfährt, über den Rand hinunterfällt.«

Ged lächelte nicht, sein Lachen war ihm vergangen. »Wer weiß, was man dort draußen antrifft. Wir Inselbewohner finden es bestimmt nie heraus, denn wir bleiben immer in der Nähe unserer Küsten und Ufer.«

»Mancher zog aus, um es zu erforschen, und keiner kehrte zurück. Und noch nie kam ein Schiff zu uns von unbekannten Landen.«

Ged antwortete nicht.

Die ganze Nacht und den ganzen Tag segelten sie, getrieben von dem mächtigen Zauberwind, über die Wogen des Meeres immer weiter nach Osten. Ged hielt Ausschau von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen, denn in der Dunkelheit wuchs die Kraft, die ihn zog oder trieb. Unentwegt starrte er geradeaus, obwohl er in der mondlosen Nacht nicht viel mehr als die blinden Bugaugen sehen konnte. Bei Tagesanbruch war sein Gesicht grau vor Erschöpfung, und er war so klamm und verkrampft von der Kälte, daß er sich kaum im Boot ausstrecken konnte.

Er sprach flüsternd: »Halte den magischen Wind aus dem Westen aufrecht, Estarriol!« und schlief sofort ein.

Kein Sonnenaufgang war zu sehen. Aus dem Nordosten schlug ein heftiger Regen gegen das Boot, aber es war kein Sturm, sondern nur der übliche Regen und Wind des Winters. Bald war alles im Boot durchnäßt, trotz der geteerten Leinwand, die sie als Schutz gekauft hatten. Vetsch hatte bald das Gefühl, als sei er bis auf die Knochen naß, und Ged fröstelte im Schlaf. Aus Mitleid mit seinem Freund, und vielleicht auch ein bißchen aus Mitleid mit sich selbst, versuchte Vetsch, den unerbittlichen, unbarmherzigen Wind, der den Regen gegen sie trieb, mit Zauberworten etwas abzubiegen. Es gelang ihm nicht. Obwohl er keine Mühe hatte, den von Ged ursprünglich aufgebrachten magischen Wind in dem Segel zu halten, so war seine eigene Zaubermacht, so weit vom Land entfernt, wirkungslos. Der Wind der hohen See gehorchte seiner Stimme nicht.

Mit dieser Erkenntnis schlich sich Furcht in sein Herz. Vetsch fragte sich, wieviel ihnen von ihrer Macht verblieben war, hier draußen, so weit entfernt vom Land, dem eigentlichen Wohnort des Menschen.

Während der Nacht übernahm Ged wieder die Wache und hielt das Boot unentwegt auf östlichem Kurs. Bei Tagesanbruch ließ der Wind der Welt etwas nach, ab und zu brach sogar die Sonne durch. Aber die Wellen türmten sich so hoch vor ihnen, daß die Weitblick sich schräg hochbewegen mußte, oben einen Augenblick fast unbeweglich auf dem Wellenkamm ritt, dann plötzlich hinunterschoß und das gleiche bei der nächsten und übernächsten Welle endlos wiederholte.

Am Abend des gleichen Tages sprach Vetsch nach langem Schweigen: »Mein Freund«, sagte er, »einmal hast du erwähnt, daß wir schließlich Land sehen werden. Es würde mir nie einfallen, deine Vision in Frage zu stellen, aber bedenke dies: das Unbekannte, dem wir folgen, kann dir einen Streich spielen, es kann dir eine Falle stellen, es kann dich hinaus aufs Meer locken, weiter, als es Menschen vergönnt ist zu gehen. Unsere Macht kann sich hier draußen ändern, auf fremden Meeren wird sie geschwächt. Wie du weißt, ermüdet ein Schatten nicht, er verhungert auch nicht, und er kann auch nicht ertrinken.«