Laut und klar, die Totenstille unterbrechend, sprach Ged den Namen des Schattens, und im gleichen Augenblick sprach der Schatten ohne Lippen und Zunge das gleiche Wort: »Ged.« Und die beiden Stimmen waren eine Stimme.
Ged streckte seine Hände aus, ließ seinen Stab fallen und ergriff den Schatten, sein schwarzes Selbst, das sich nach ihm ausstreckte. Hell und Dunkel trafen zusammen, verbanden sich und wurden eins.
Vetsch war weit zurückgeblieben, und im dunklen Dämmerlicht über den Sand blickend, sah er mit Entsetzen, wie Ged überwältigt wurde, und wie der helle Schein, der ihn umgeben hatte, immer schwächer wurde. Von Wut und Verzweiflung gepackt, sprang er aus dem Boot auf den Sand hinaus, um seinem Freund zu helfen oder mit ihm zu sterben. Er rannte auf den letzten verglimmenden Lichtschein zu, in der trostlosen Dämmerung des trockenen Landes. Aber noch während er lief, spürte er, wie er im Sand unter seinen Füßen versank, und er begann schwerfällig, wie in Schlick oder Schlamm, zu waten — bis mit donnerndem Brausen und herrlichem Tageslicht, mit bitterer Winterskälte und herbem Salzgeschmack die Welt wiederhergestellt wurde und er plötzlich im nassen, kalten, lebendigen Wasser des Meeres zappelte.
Nahebei schaukelte das Boot auf den grauen Wellen, sonst konnte Vetsch nichts auf dem Meer erblicken, denn die Schaumkronen der Wellen schlugen ihm ins Gesicht und nahmen ihm die Sicht. Er war nicht der beste Schwimmer und mühte sich ab, zum Boot zu gelangen, und zog sich langsam hoch. Hustend hockte er im Boot und schaute verzweifelt um sich, während er das aus seinen Haaren strömende Wasser aus dem Gesicht strich. Er wußte nicht, in welche Richtung er blicken sollte. Schließlich sah er, weit entfernt, etwas Dunkles auf dem Wasser treiben. Er ergriff flugs die Ruder und näherte sich mit mächtigen Schlägen der Stelle, wo sein Freund im Wasser trieb, und seinen Arm ergreifend, zog er ihn an Bord.
Ged war betäubt, und seine Augen starrten blicklos ins Leere, aber er schien unverletzt zu sein. Er hielt seinen Stab aus schwarzem Eibenholz, dessen Glanz erloschen war, mit der rechten Hand fest umklammert und wollte ihn nicht loslassen. Er sprach kein Wort. Erschöpft, durchnäßt und zitternd kauerte er am Mast und blickte an Vetsch vorbei in die Ferne, der das Segel hißte und das Boot wendete, um den Nordostwind zu fangen. Nichts sah er von dieser Welt, bis sich direkt vor ihnen auf ihrem Kurs, in dem sich verdunkelnden Abendhimmel, zwischen dunklen Wolkenfetzen, eine Bucht klaren blauen Lichtes auftat, in die der neue Mond trat, eine schmale Sichel aus Elfenbein, ein Rand aus poliertem Horn, der das Sonnenlicht über den dunklen Ozean zurückwarf.
Ged hob sein Gesicht empor und blickte lange auf die ferne, helle Mondsichel im Westen.
Er ließ seinen Blick darauf ruhen, dann stand er auf, ergriff seinen Stab mit beiden Händen, wie ein Krieger sein langes Schwert packt. Er schaute auf den Himmel, auf das Meer, auf das pralle, braune Segel über sich, auf das Gesicht seines Freundes.
»Estarriol«, sagte er, »schau her, es ist vollbracht, es ist vorbei.« Er lachte. »Die Wunde ist geheilt«, sagte er, »ich bin ein ganzer Mensch, ich bin frei.« Dann beugte er sich nach vorne und barg sein Gesicht in seinen Armen und weinte wie ein Kind.
Bis zu diesem Augenblick hatte Vetsch ihn mit Angst und geheimer Furcht beobachtet, denn er war nicht sicher, was sich dort draußen auf dem dunklen Land zugetragen hatte. Er wußte nicht, ob es wirklich Ged war, der im Boot bei ihm saß, und seit Stunden schon hielt er den Anker in seiner Hand, bereit, die Planken des Bootes zu durchstoßen und sie alle hier mitten im Meer zu versenken, damit das Ungeheuer, das er unter Geds Gestalt und Hülle fürchtete, nicht zurück in die Häfen der Erdsee gelangte. Aber jetzt, als er die Stimme seines Freundes vernahm und ihn anblickte, verschwanden alle Zweifel. Er begann die Wahrheit zu ahnen, daß Ged weder gewonnen noch verloren hatte, daß er, indem er dem Schatten seines Todes seinen eigenen Namen gab, sich selbst fand und zu einem Ganzen schloß: er wurde ein Mensch, der sich selbst erkannt hatte und von keiner anderen Macht, außer seiner eigenen, besessen oder beherrscht werden konnte, der das Leben um des Lebens willen lebt, nicht im Dienste der Zerstörung, des Hasses, der Pein und der Finsternis. Wie es in der Erschaffung von Éa, dem ältesten Lied, heißt: »Nur aus dem Schweigen ward das Wort, nur aus dem Dunkel ward das Licht, nur aus dem Tod ward das Leben: Hell ist der Flug des Falken in der Weite des Himmels.« Dieses Lied sang Vetsch jetzt mit heller Stimme, während er das Boot gegen Westen segelte, den kalten Winterwind im Rücken, der von hoher See her blies.
Acht Tage und wiederum acht Tage lang segelten sie, bis sie endlich Land sichteten. Oft mußten sie ihre Wasserflaschen mit magisch entsalztem Wasser füllen, oft versuchten sie zu fischen, aber selbst mit Hilfe magischer Formeln war ihr Fang gering, denn die Fische der hohen See wissen ihre wahren Namen nicht und kümmern sich wenig um Magie. Als sie nichts mehr außer ein paar Fetzen geräucherten Fleisches übrig hatten, erinnerte sich Ged wieder an Jarros Worte, als er das Weizenküchlein stibitzt hatte: daß er seine Tat bereuen würde, wenn ihn draußen, auf dem Meere, hungere. Aber die Erinnerung machte ihn, trotz seines Hungers, froh, denn sie hatte auch gesagt, daß er zusammen mit ihrem Bruder heimkehren würde.
Nur drei Tage lang waren sie mit dem magischen Wind nach Osten gesegelt, aber es dauerte sechzehn Tage, den Rückweg nach Westen zurückzulegen. Noch nie waren Männer zurückgekehrt, die so weit draußen auf hoher See gewesen waren wie die beiden jungen Zauberer Estarriol und Ged, im Brachmond des Winters, in ihrem offenen Fischerboot. Keine heftigen Stürme verlangsamten ihre Fahrt, und sie segelten stetig, mit Kompaß und dem Stern Tolbegren. Da sie einen etwas nördlicheren Kurs als auf dem Hinweg einschlugen, lag Astowell nicht auf ihrem Weg, sie kamen an Weit-Toly und Sneg vorbei, sichteten die Inseln aber nicht. Das erste Land, das sie sahen, war das Südkap von Koppisch. Über den Wellen erhoben sich die Felskuppen wie Türme einer Riesenfestung. Seevögel kreisten krächzend und kreischend über die Wogen, und die Herdfeuer der kleinen Dörfer ringelten sich blau im Wind.
Von dort war die Reise nach Iffisch nicht mehr weit. Sie erreichten den Hafen von Ismay an einem ruhigen, dunklen Abend vor einem Schneesturm. Sie legten an und machten ihr Boot Weitblick, das sie an die Küste des Totenreiches und wieder zurück getragen hatte, fest und schritten die engen Gassen hinauf zum Hause des Zauberers. Ihre Herzen waren leicht, als sie unter das Dach des Hauses traten, wo das Feuer behagliche Wärme verbreitete und wo Jarro, mit Tränen der Freude in den Augen, ihnen entgegeneilte und sie begrüßte.
Wenn Estarriol von Iffisch sein Versprechen gehalten und ein Lied über die ersten großen Taten Geds gedichtet hat, so ging es verloren. Im Ostbereich erzählt man die Geschichte von einem Boot, das, einige Tagesreisen von der Küste entfernt, mitten über der Meerestiefe auf festen Grund auflief. In Iffisch wird behauptet daß Estarriol das Boot gesegelt hatte, aber in Tok besteht man darauf, daß es zwei Fischer waren, die vom Sturm auf die hohe See getrieben wurden, und in Holp sagt man, daß ein holpischer Mann sein Boot nicht von den unsichtbaren Sandbänken freibekam und seither umherwandere. Vom Schattenlied sind nur Fragmente erhalten, die im Laufe der Zeit wie Treibholz von Insel zu Insel getragen wurden. Das Gedlied berichtet nichts von dieser Fahrt Geds und von dem Zusammentreffen mit dem Schatten, das sich zutrug, bevor Ged unversehrt durch die Dracheninseln fuhr, und bevor er den Ring von Erreth-Akbe von den Gräbern von Atuan nach Havnor zurückbrachte und schließlich nach Rok zurückkehrte und Erzmagier von all den Inseln der Welt wurde.