Er hielt seine Augen gesenkt und schaute auf die weißen Blumen, die ihren weißen Rock berührten, und antwortete kaum, denn er war schüchtern und befangen. Aber sie hörte nicht auf zu schwätzen, und ihre offene, sorglose und eigenwillige Art des Redens half ihm, seine Scheu zu überwinden. Sie war groß, fast so groß wie er, und hatte eine gelbliche, nahezu weiße Haut; man sagte, daß ihre Mutter von Osskil oder aus einem anderen fremden Land gekommen sei. Das Haar des Mädchens war lang und glatt und fiel wie eine Kaskade schwarzen Wassers über ihre Schultern. Ged fand sie ziemlich häßlich, aber es drängte ihn doch, ihr ein Vergnügen zu machen und ihre Bewunderung zu erlangen, ein Gefühl, das immer stärker in ihm wurde, je länger sie redete. Sie brachte ihn dazu, ihr die ganze Geschichte mit dem Nebel und den Kargs zu erzählen, und sie hörte ihm zu, als ob sie ihn bewundere, und sie tat, als sei sie beeindruckt, aber sie lobte ihn mit keinem Wort. Und bald ließ sie auch das Thema fallen und schlug ein anderes an. »Kannst du Vögel und Tiere zu dir rufen?« fragte sie.
»Ja, das kann ich«, sagte Ged.
Er wußte, daß in den hohen Felsen über der Wiese ein Falkennest war, und er rief den Namen des Vogels, dem der Falke folgen muß. Er kam, aber er setzte sich nicht auf Geds Handgelenk, wahrscheinlich störte ihn die Gegenwart des Mädchens. Schreie ausstoßend, schlug er die Luft mit seinen mächtigen, ausgebreiteten Schwingen und erhob sich wieder in den Wind.
»Wie heißt die Zauberformel, die macht, daß ein Falke zu dir kommt?«
»Es ist eine Formel des Gebietens.«
»Kannst du auch machen, daß die Toten zu dir kommen?«
Er dachte, daß sie ihn mit dieser Frage zum Narren hielt, vielleicht weil der Falke ihm nicht ganz gehorcht hatte. Er konnte es nicht ertragen, verspottet zu werden. »Vielleicht könnte ich es, wenn ich wollte«, sagte er mit ganz ruhiger Stimme.
»Ist das nicht arg schwierig, arg gefährlich, einen Geist heraufzurufen?«
»Schwierig, bestimmt. Gefährlich?« Er zuckte die Achseln.
In diesem Augenblick war er fast sicher, Bewunderung in ihrem Blick zu lesen.
»Kannst du auch Liebestränke machen?«
»Das ist keine Kunst.«
»Stimmt«, sagte sie, »jede Dorfhexe kann das. Kannst du auch eine andere Gestalt annehmen, so wie man sagt, daß dies richtige Zauberer tun können?«
Er hatte wiederum das Gefühl, daß sie ihn verspottete, und er wiederholte: »Vielleicht könnte ich, wenn ich wollte.«
Jetzt begann sie, ihn zu plagen, sich doch in irgend etwas, was ihm gefiele, zu verwandeln, vielleicht in einen Falken oder in einen Stier oder in Feuer oder in einen Baum. Er versuchte, sie mit den kurzen, geheimnisvollen Worten, die sein Meister manchmal gebrauchte, hinzuhalten, aber sie hörte nicht auf, ihm zuzusetzen, und er wußte nicht, wie er sie loswerden konnte. Außerdem war er selbst nicht sicher, ob er seinen großen Reden glauben solle oder nicht. Er gab vor, daß sein Meister ihn zu Hause erwarte, und verließ sie, und am nächsten Tag vermied er die Wiese. Aber am übernächsten Tag, nachdem er sich eingeredet hatte, daß er mehr von den Blüten pflücken wolle, solange sie blühten, fand er sich wieder auf der Wiese. Das Mädchen war schon da. Barfuß wateten sie im sumpfigen Gras, und gemeinsam zupften sie die Blüten der Kelchblume ab. Die Frühlingssonne schien, und das Mädchen plapperte lustig drauflos, genau wie die Mädchen von seinem Dorf, mit denen er Ziegen gehütet hatte. Wieder fragte sie ihn alles mögliche über die Zauberei aus und machte große Augen zu allem, was er vorbrachte, so daß er schließlich wiederum anfing, anzugeben… Dann wiederholte sie ihre Bitte, daß er sich in etwas verwandeln solle, und als er versuchte, sie hinzuhalten, blickte sie ihn herausfordernd an und strich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht: »Hast du etwa Angst davor?«
»Nein, ich habe keine Angst davor.«
Sie lächelte etwas herablassend und meinte: »Vielleicht bist du zu jung.«
Das war zuviel. Er redete nicht mehr viel, aber er faßte den Entschluß, sich vor ihr zu beweisen. Er sagte ihr, sie solle am nächsten Tag wieder zur Wiese kommen, wenn sie Lust dazu hätte, und verabschiedete sich von ihr. Er kehrte nach Hause zurück, als sein Meister noch fort war. Er ging stracks auf das Bücherbrett zu und nahm die beiden Bände der Magierkunde herunter, die Ogion noch nie in seiner Gegenwart geöffnet hatte.
Er suchte nach einer Formel der Selbstverwandlung, aber weil er noch sehr langsam im Runenlesen war und überhaupt nur wenig von dem verstand, was er las, so fand er nicht, was er suchte. Diese Bücher waren uralt, Ogion hatte sie von seinem eigenen Meister Heleth Weitblick bekommen, und der wiederum hatte sie von seinem Meister, dem Magier von Perregal, und so weiter und so weiter bis zurück in mythologische Zeiten. Die Schrift war klein und seltsam, es war darüber- und dazwischengeschrieben, und man konnte sehen, daß es das Werk vieler Hände war, Hände, die schon lange zu Staub und Asche zerfallen waren. Ab und zu verstand er etwas von dem, was er las, aber es war hauptsächlich der Spott und die Fragen des Mädchens, die ihn weitersuchen und schließlich stutzen ließen, als von einer Beschwörungsformel der Toten die Rede war.
Während er las, langsam, denn er mußte an jeder Rune und an jedem Zeichen herumraten, fühlte er ein Grauen in sich aufsteigen. Seine Augen wurden starr, und er konnte den Blick nicht von der Seite heben, bis er mit der ganzen Beschwörungsformel fertig war.
Als er endlich den Kopf hob, bemerkte er, wie dunkel es im Hause war. Er hatte ohne Licht in der Dunkelheit gelesen. Jetzt konnte er die Runen, die vor ihm aufgeschlagen waren, nicht mehr entziffern. Doch das Grauen, das er in sich fühlte, wuchs und hielt ihn an seinen Stuhl gefesselt. Er fröstelte. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er dort, neben der Tür, einen formlosen, schattenhaften Klumpen, schwärzer als die tiefste Dunkelheit, hocken. Es schien, als strecke sich dieses namenlose Etwas nach ihm aus, es schien zu flüstern, ihm leise zuzurufen, aber er konnte die Worte nicht verstehen.
Die Tür flog auf. Ein Mann, umflammt von weißem Licht, betrat den Raum, eine hohe, helle Gestalt, die plötzlich laut und drohend sprach. Das dunkle Etwas verschwand, das Flüstern hörte auf, der Bann war gebrochen.
Das Grauen wurde zwar schwächer in Ged, doch eine tödliche Angst blieb zurück, denn dort unter der Tür stand Ogion der Magier, umstrahlt von hellem Licht, den eichenen Stab in der Hand haltend, der weiß leuchtete.
Ohne ein Wort zu sagen, ging Ogion an Ged vorbei, zündete die Lampe an und legte die Bücher zurück auf das Bord. Dann wandte er sich zu dem Jungen und sagte: »Nie wirst du diese Formel benutzen können, ohne Furcht um deine Macht und um dein Leben zu haben. Hast du um dieser Formel willen die Bücher geöffnet?«
»Nein, Meister«, murmelte er und schämte sich, während er Ogion alles erzählte, was sich zugetragen hatte, was er suchte und warum er es tat.
»Hast du vergessen, daß die Mutter des Mädchens, die Frau des Fürsten, eine Zauberin ist?«
Ged erinnerte sich wieder. Ogion hatte einmal davon gesprochen, aber Ged hatte nicht weiter darauf achtgegeben, obwohl er in der Zwischenzeit gelernt hatte, daß alles, was ihm Ogion sagte, von Bedeutung war.
»Das Mädchen selbst ist fast schon eine halbe Zauberin. Es kann gut sein, daß die Mutter das Mädchen hergeschickt hatte, damit sie mit dir rede. Vielleicht war sie es, die das Buch auf der Seite aufschlug, auf der du gelesen hast. Den Mächten, denen sie dient, diene ich nicht. Ihre Absicht ist mir unbekannt, aber das weiß ich: mir wünscht sie nichts Gutes. Hör mir gut zu, Ged! Hast du noch nie daran gedacht, daß Macht die Gefahr an sich lockt wie Licht den Schatten? Zauberei ist kein Spiel, das wir zum Vergnügen oder um des Ruhmes willen treiben. Und auch daran denke: Jedes Wort, das wir aussprechen, und jede Handlung, die wir als Zauberer vollbringen, wird entweder um des Guten oder um des Bösen willen getan. Daher mußt du, bevor du sprichst oder handelst, wissen, welchen Preis du dafür zahlen mußt.«