Heinz Konsalik
Der Mann, der sein Leben vergaß
Kapitel 1
Als der Sparkassenangestellte Pieter van Brouken an jenem Freitagnachmittag im Juni 1923 gegen einhalb fünf Uhr seiner Wohnung zustrebte und eiligen Schrittes in die Nieuwe Heerengracht am Botanischen Garten von Amsterdam einbog, war er ein unbescholtener, 35 Jahre alter, lustiger, mittelgroßer und treuherziger Mann und Familienvater, für den die Welt in erster Hinsicht nur aus seiner Frau Antje und seinem Sohn Fietje bestand. Bescheiden in allen Bedürfnissen des Lebens, ein gewissenhafter Sparkassenbeamter, dem das ruhevolle und ausgeglichene Dasein im Gesicht stand, wäre ihm nie der Gedanke gekommen, etwas anderes zu sein als Pieter van Brouken mit einem mäßigen Monatsgehalt und der stillen Sehnsucht nach einem Siedlungshäuschen am Oberlauf der trägen Amstel.
Es war ein sonniger, drückendheißer Juni-Nachmittag. Die Luft über den Asphaltstraßen flimmerte und zitterte, überscharf waren die Konturen der großen Häuser, und wenn man auf die Straße blickte, blendete sie, und die Augen schmerzten. Wohl lockten vom Botanischen Garten herüber die Schatten der hohen Bäume mit den weißangestrichenen Bänken darunter, aber Pieter van Brouken hatte es eilig.
Etwas Wichtiges, etwas ganz Wichtiges mußte er Antje berichten! Er war gestiegen, jawohl, im Gehalt um 35 Gulden monatlich gestiegen! Sein nie erlahmender Fleiß, seine peinliche Genauigkeit hatten endlich Frucht getragen, und er fühlte sich stolz, daß er es mit Ausdauer und einem geregelten Leben zu etwas gebracht hatte. Er freute sich schon auf dem langen Weg zur Noorderstraat auf den Freudenschrei der zierlichen Antje, und in seiner Tasche verwahrte er für den eineinhalbjährigen Fietje ein neues, großes Gummitierchen, das laut aufquietschte, wenn man ihm auf den Bauch drückte.
Als Pieter van Brouken die Nieuwe Heerengracht herabeilte und am Ende des Botanischen Gartens angelangt war, fühlte er plötzlich einen merkwürdigen Druck im Hinterkopf und einen leichten Schwindel. Seine hurtig ausgreifenden Beine pendelten auf einmal, und ein leichter Schleier zog über seine Augen.
Tief atmend stützte er sich an einem Baum und senkte den Kopf.
»Zu dumm«, murmelte er. »Immer das Herz! Ich muß doch mal zu einem Facharzt gehen. So eine blöde Hitze - das hält das stärkste Herz nicht aus!«
Den Brustkorb in tiefem Atem dehnend, lehnte er einen Augenblick an den Baum und schloß die Augen. In seinem Kopfe schwankte es, er fühlte sich schlapp, unendlich müde, und dieser schwere Druck im Hinterkopf fühlte sich an wie eine kaum überstandene Betäubung. Eine prickelnde Übelkeit kletterte in seiner Brust empor und würgte in der Speiseröhre ... ein Brechreiz machte sich bemerkbar und ließ ihn heftig schlucken.
»Zu blöd«, murmelte van Brouken. »Zu blöd! Wird doch wohl kein Sonnenstich sein?! Woher bloß dieser Druck im Kopf kommt?! Das darf Antje gar nicht wissen, sonst ist der Teufel los und der Arzt Stammgast!«
Er drückte den Kopf an die rauhe Rinde des Baumes und wartete, bis der Anfall sich legen würde. Mit geschlossenen Augen, leicht schwankend, stand er da.
Ein junges Mädchen blieb erstaunt stehen, sah sich um, zögerte einen Augenblick und kam dann zurück.
»Ist Ihnen unwohl?« fragte es besorgt und berührte leicht den schwankenden Mann.
»Ein wenig«, antwortete van Brouken mit schwerer Zunge. »Nur ein wenig, mein Fräulein. Ich danke Ihnen. Die Hitze bekommt mir nicht.«
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte es und trat näher. »Soll ich Ihnen Wasser holen, oder einen Arzt? Um die nächste Ecke wohnt ein Doktor. Am besten ist, Sie setzen sich. Dort steht ja eine Bank.«
Pieter van Brouken nickte. Sein glattes Beamtengesicht war blaß und ein wenig verzerrt. »Eine Bank, das ist sehr gut«, murmelte er. »Bitte, führen Sie mich hin. Meine Beine sind plötzlich so gefühllos - ich kann nicht auftreten ... allein könnte ich stürzen ...«
Fest packte ihn das Mädchen unter den Arm und führte ihn langsam Schritt für Schritt zu einer der weißgestrichenen Bänke. Es dauerte lange, ehe sie den kurzen Weg zurückgelegt hatten und sich Pieter van Brouken auf die Bank sinken ließ. Kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn in den weißen, steif gestärkten Kragen.
»Haben Sie herzlichen Dank«, stammelte er und lehnte sich weit zurück. Doch da er sah, daß das Mädchen nicht ging, sondern sich nach Hilfe umsah, log er: »Es geht schon wesentlich besser. Der Druck ist schon wieder weg. Lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten, mein Fräulein. Sicherlich wartet Ihr Bräutigam dort hinten an der Ecke. Und Männer warten nie gern ... Und nochmals besten Dank.«
Zögernd entfernte sich das Mädchen. Ab und zu blieb es stehen und blickte sich nach der Bank um. Endlich bog es um die Ecke der Heerengracht. Erleichtert atmete van Brouken auf. Nur keinen Skandal, dachte er, nur keinen Auflauf. Gerade jetzt nicht, wo ich befördert bin und mein Gehalt steigt. Antje soll sich freuen und von dem Anfall nichts erfahren, und zum Arzt wird auch einmal gegangen. Erst das Siedlerhäuschen an der Amstel, drei oder vier Zimmerchen mit einem Blick auf den Fluß und einer kleinen Spielwiese für Fietje. Vielleicht auch ein Obst- und Gemüsegärtchen hinten dran ... na ja, kommt Zeit, kommt Rat ...
Wenn dieser ekelhafte Druck im Hinterkopf nicht wäre! Und vor den Augen liegt noch immer der Schleier, die Glieder sind schwer wie Blei, und müde ist er, schrecklich müde.
Überarbeitung, dachte van Brouken, absolute Überarbeitung. Immer rechnen, immer diese Zahlen, zigtausend Gulden täglich ... und die Verantwortung ... das reibt auf.
Er schloß wieder die Augen und legte den schmerzenden Kopf seitlich auf die Rückenlehne der Bank.
Dann wußte er nichts mehr.
Er schlief. Mit langen, tiefen Atemzügen.
Über die Nieuwe Heerengracht brandete lärmend der Großstadtverkehr, die Schritte der vorübergehenden Menschen klapperten auf dem Asphalt.
Pieter van Brouken hörte es nicht.
Sein Schlaf war bleiern, abgrundtief, entführend ...
In ihrer engen Kochnische, die sich an die helle, geräumige Wohnküche anschloß, hantierte Antje van Brouken mit Tellern und Tassen. Sie spülte das Mittagsgeschirr und stellte das Kaffeegedeck für den erwarteten Pieter zurecht. In seinem hölzernen Lauf stall, der in einer Ecke der Küche stand, krähte der kleine Fietje und boxte im Freistil mit einem arg zerzausten, dicken, hellbraunen Teddybären.
Antje van Brouken war der Typ eines >lieben Frauchensc. Weder hübsch noch häßlich, weder schlank noch drall, weder klug noch dumm, aber peinlich sauber, anständig, mit einem goldenen Herzen und stolz auf ihre hausfraulichen Kenntnisse vertrat sie die Menge der stillen, unablässig arbeitenden Frauen.
Antjes Haare waren von einem unwahrscheinlichen Blond, und die Stupsnase gab dem alltäglichen Gesicht die Note einer Pfiffigkeit, von der Gebrauch zu machen sie nie in die Gelegenheit gekommen war.
Der kleine Fietje, der einen vollendeten Kinnhaken bei Teddy gelandet hatte, jauchzte auf und brüllte vor Freude. Lächelnd blickte Antje aus ihrer Kochnische und nickte dem Kleinen zu. In diesem Augenblick war sie die Schönste aller Frauen.
»Gleich kommt der Papi«, rief sie. »Sei schön brav und mach den Teddy nicht kaputt!«
Dann trocknete sie weiter die Teller ab und sang mit einem dünnen, hellen Stimmchen ein altes Volkslied, das die Fischer ihrer Heimat des Abends am rauchenden Ofen gröhlten.
Als sie fertig war, deckte sie für Pieter den Tisch, setzte Brot und Butter zurecht, schüttete frischen Malzkaffee auf und blickte auf die Uhr. Sie wunderte sich, daß die minuziöse Pünktlichkeit Pieters bereits um fünfeinhalb Minuten überschritten war, dann ging sie zum Fenster, setzte sich in einen alten Lehnstuhl und nahm ein Kopfkissen auf, dessen Inlett sie gerade flickte.
Der kleine Fietje, etwas stiller geworden, zerlegte gewissenhaft ein großes Holzauto.