Tbc? Sollte dieses herrliche, blühende Mädchen lungenkrank sein? Ihre manchmal fahle Haut und die in letzter Zeit öfter auftretende, plötzliche körperliche Schwäche ließen darauf schließen. Auch war das Mädchen nervös und leicht erregbar geworden, alles Dinge, die vor zwei Jahren noch nicht in Erscheinung traten und Destilliano daher verblüfften.
»Ich bin ein schlechter Arzt«, murmelte er und schritt langsam dem Hause zu. »Tausenden helfe ich, und die eigene Nichte verwelkt unter meinen Händen ...«
Er trat ins Haus, ging leise die Treppen hinauf und klinkte nach kurzem Anklopfen die Tür von Anitas Wohnzimmer auf.
Als er eintrat, sah er noch, wie das Mädchen schnell unter der Sofadecke etwas versteckte. Dann blickte sie ihn mit erstaunten, aber auch maßlos erschreckten Augen an.
»Du, Onkel?« fragte sie stockend. »Um diese Zeit?!« Und plötzlich sprang sie auf und rief: »Du hast Nachricht von Fernando! Ihm ist etwas passiert!«
Professor Destilliano schüttelte den Kopf und trat näher. Das schnelle Verstecken und die erschreckten Augen Anitas gefielen ihm nicht und machten ihn irgendwie mißtrauisch.
»Komm einmal näher, Anita«, sagte er mit leiser, gütiger Stimme und blieb unter der hellen Deckenlampe stehen. Verwundert kam das Mädchen heran und blieb drei Schritte vor Destilliano stehen. Der Professor winkte. »Nein, Anita, noch näher«, sagte er gütig. »Ganz nahe, hier unter das Licht. - So!«
Er stellte sie unter die Lampe und hob ihren Kopf empor zu der starken Glühbirne.
»Du gefällst mir in letzter Zeit nicht«, meinte er dabei. »Deine Augen sind so anders. Laß mich mal sehen.«
Schnell senkte Anita den Kopf und nestelte an ihrem Kleid.
»Es ist nichts«, sagte sie stockend. »Ich fühle mich ganz wohl. Die Sorge um Fernando, die Nachtarbeit an der Aussteuer ... sonst nichts. Mir ist bestimmt ganz wohl.«
Mit dem feinen Gefühl des Arztes, der alle seelischen Schwingungen aufnimmt, fühlte Destilliano, daß sie log. Wieder nahm er ihren Kopf und richtete ihre Augen zum Licht empor.
»Dann laß mich einmal sehen«, sagte er dabei und spürte, wie das Mädchen zu zittern begann. »In den Augen der Menschen liegt oft ein halbes Leben ...«
Aufmerksam blickte er in ihre flackernden, wie im Fieber glänzenden Augen und wandte sich dann plötzlich ab. Unmöglich! schoß es durch seinen Kopf. Das ist doch unmöglich!
Immer und immer wieder starrte er in die Augen. Er fühlte, wie es ihm trotz der Hitze eiskalt über den Rücken lief.
Ein Schwindel drohte ihn umzuwerfen.
Die Pupillen von Anitas Augen waren groß. Unnatürlich groß.
Und starr! Fast leblos ... Groß und starr ...
In Destillianos Schläfen rauschte es, während er das zurückweichende Mädchen losließ.
»Was hast du da eben versteckt?« fragte er leise und heiser. Das ungeheuerliche Bewußtsein, das er eben aus diesen Augen las, machte ihn starr.
Anita war zum Sofa zurückgewichen und zitterte. Schützend stellte sie sich vor das Versteck.
»Nichts«, sagte sie trotzig und duckte sich ein wenig, als erwarte sie einen Schlag.
Das Wort >nichts< riß in Destilliano eine Schleuse auf. Eine irre Angst brach über seine Seele herein.
»Das ist doch unmöglich ... unmöglich ... unmöglich ...«, stammelte er. Und plötzlich brüllte er, daß Anita wie unter einem Schlag zusammenzuckte und sich krümmte: »Was du da versteckt hast, will ich wissen!«
»Ich bin es nicht gewöhnt, angeschrien zu werden«, rief das Mädchen und setzte sich auf die Decke, die den versteckten Gegenstand verbarg. Trotzig schlug sie die Beine übereinander.
Destilliano stürzte vor und riß Anita am Handgelenk empor. Sie wollte beißen und kratzen, doch der Greis schleuderte sie von sich. Er war von Sinnen, die Augen quollen aus den Höhlen, und seine weißen Haare flatterten um seine Stirn.
»Dort, unter der Decke - was ist das?!«
»Nichts!«
»Du lügst!«
»Ja!!«
»Gib es heraus!«
»Nein.«
»Weg!« brüllte Destilliano und schleuderte das wieder vor dem Sofa stehende Mädchen zur Seite. Ehe sie sich wieder fangen konnte und auf den Professor stürzte, hatte dieser die Decke zur Seite gerissen.
Ein flacher, länglicher Kasten lag auf dem Sofa.
Ein unscheinbarer, grauer Kasten.
Mit einem Röcheln taumelte Destilliano zurück und lehnte sich an die Wand. Mit beiden Händen bedeckte er das verzerrte Gesicht.
Eine unheimliche Stille lag in dem Zimmer. An die Lehne des Sofas gepreßt, starrte Anita zu ihrem Onkel herüber.
Nach langem Schweigen ließ Destilliano die Hände sinken. Das faltige Gesicht eines müden, zerbrochenen Mannes kam zum Vorschein. Stockend quälte er die Worte hervor.
»Seit wann nimmst du Kokain ...«
»Seit einem Jahr ...«
»Täglich?«
»Ja, täglich.«
»Wo hast du das Gift her?« röchelte Destilliano. Anita blickte zu Boden. Ein heftiges Zittern durchfuhr ihren sichtlich abgemagerten Körper.
»Ich fand im Hause Fernandos, nebenan, eine kleine Kiste mit diesen Schachteln. Ich nahm sie mit, machte sie hier auf und sah, daß es Kokain war. Zuerst fürchtete ich mich - ich habe so viel Schreckliches von Kokain gelesen und gehört -, doch dann, als Fernando zum erstenmal fortfuhr, da hatte ich so schreckliche Angst um ihn. Da machte ich ein Paket auf.«
»Und du nahmst ein Pulver?« stammelte Destilliano. »Ja. Und ich schlief herrlich und wurde so ruhig danach. Wie ein Wunder war es, das in den Körper dringt. Jeden Abend sehnte sich mich nach diesen Träumen, dürstete nach der Nacht, zitterte, bis ich das Pulver nahm. Und dann war alles so leicht und herrlich, so voll Glück wie im Märchen.«
»Es ist der Tod!« schrie Destilliano. Eine irrsinnige Angst stieg in ihm empor. Er stürzte auf Anita zu und schüttelte sie. »Der Tod! Der Tod! Der Tod!« brüllte er dabei, und ihre schwarzen Locken, die vor seinen starren Augen flatterten, machten ihn vollends irr. »Wer das Gift nimmt, ist verloren!« schrie er gellend. »Du darfst es nicht mehr nehmen, hörst du -du darfst nicht!!«
Anita hatte die Augen geschlossen. Willenlos ließ sie sich schütteln.
»Ich kann nicht mehr«, stammelte sie. »Ich muß.«
»Nein!« Destilliano taumelte zurück. »Du bist dem Gift noch nicht verfallen!« Eine kindische Furcht warf ihn in die Knie. Zitternd umschlang er Anitas Beine und winselte ihr zu Füßen. »Anita, sag doch ... du bist ihm nicht verfallen ... du kannst es vergessen ... du bist ihm nicht verfallen ...«
Anita streichelte die weißen, schweißverklebten Haare ihres Onkels. Der zitternde, winselnde Greis tat ihr unendlich leid. Doch sie konnte nicht anders - eine fremde, gewaltige Macht hatte ihren Willen in Besitz genommen.
»Doch«, sagte sie leise in das Schweigen. »Ich brauche das Gift zum Leben ...«
Stöhnend richtete sich Destilliano auf. Dann aber stürzte er mit einem Satz auf den grauen Kasten, warf ihn zu Boden und zertrat ihn, stampfte das Pulver in den Teppich, trat und hieb mit den Füßen darauf, wild, wie ein Amokläufer, und rannte dann aus dem Zimmer, als hetze ihn eine Meute blutdürstiger Hunde.
In seiner Bibliothek sank er vor einem alten, geschnitzten, in einer dunklen Ecke hängenden Kruzifix nieder und hieb mit dem Kopf auf den Boden.
»Vergib mir!« schrie er mit heiserer Stimme. »Herr ... vergib mir ... vergib mir ... Strafe mich nicht so ... Fluche nicht der Unschuld ... fluche mir ... o Herr, Herr ... vergib mir ...!«
Sein Schreien ging in ein Wimmern über, bis es vor Erschöpfung erstarb.
Ohnmächtig lag Professor Destilliano vor dem dunklen Kruzifix.
Es war dieselbe Zeit, in der unten im Hafen die Jacht Anita, von Amsterdam kommend, einlief und Dr. Albez verwundert auf die leere Kaimauer schaute, auf der nur ein Mann stand.