Antonio de Selvano und Primo Galbez saßen sich seit einer
Stunde gegenüber und sprachen nicht miteinander. Das dicke Aktenstück vor ihnen war aufgeschlagen und schien schuld an der tiefen Verstimmung zu sein.
»Was nützen mir Ihre dummen Schachteln mit Dilandid, Dolantin, Dicodid und Acedicon - wir können niemals den Nachweis erbringen, daß sie geschmuggelt wurden«, sagte Selvano endlich ärgerlich und schielte zu Galbez hinüber.
»Aber ich fand sie auf der Jacht Anita!«
»Wieviel denn - eine halbe Kiste! Ein halbes Kistchen! Acedicon und Dolantin! Wenn schon! Das bekommen Sie in jeder Apotheke!«
»Aber nur auf Rezept. Der freie Besitz dieser Medikamente ist strafbar!«
Selvano winkte ab.
»Nicht der Rede wert! Außerdem war Destilliano Arzt und berechtigt, eine bestimmte Menge Narcotica zu besitzen.«
»Aber die Laderäume zeigten außerdem deutlich Spuren einer großen Ladung!«
»Können Sie nachweisen, daß Biancodero Rauschgift lud?« fragte der Kommissar ironisch.
Primo Galbez zögerte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein. Aber ...«
»Kein Aber!« Selvanos Hand schlug durch die Luft.
»Bei der Polizei sind Logik und Tatsachen interessant. Sonst nichts. Auf Verdächtigungen können wir nichts geben! Und hier liegt der Hund begraben, wie man sagt! Seit Anita Almiranda und Professor Destilliano Selbstmord begingen, ist nichts mehr da, was angreifbar wäre! Die Haussuchung verlief ergebnislos! Biancodero brach bei der erschütternden Nachricht von Anitas und des Professors Tod zusammen und st noch nicht wieder vernehmungsfähig, und außerdem ist mit ihm ja doch nichts anzufangen, denn schmuggelte Destilliano Rauschgift, so ohne
Wissen Biancoderos. Was wollen Sie also noch?! Wir können die Akte schließen und darüber schreiben: Große Blamage!«
Primo Galbez teilte nicht ganz die Ansicht und den Pessimismus seines Chefs. Wenn er auch einsah, daß nach dem Tode der Familie Destilliano kein einziger Beweis mehr zu erbringen war, ließ ihn doch die geheimnisvolle Person dieses Jose Biancodero nicht los, den Anita im trauten Kreise nur Fernando nannte.
»Man sollte sich mehr um diesen Biancodero kümmern«, bohrte er weiter.
Doch jetzt stieß er auf einen harten Widerstand seines Chefs.
»Lassen Sie mich mit Ihrem Spleen in Ruhe!« schrie Selvano erregt. »Ich habe mich in Sevilla erkundigt! Jose Biancodero ist auf unbestimmte Zeit verreist. Er ist bis heute noch nicht nach Sevilla zurückgekehrt! - Logisch: er liegt mit einem
Nervenzusammenbruch im Lissaboner Krankenhaus.«
»Für Sie ist also der Fall erledigt?«
Selvano nickte. »Ich lege meinen Bericht morgen dem Präfekten vor und lasse dann die Akten schließen.«
»Und was wird aus Jose Biancodero?«
Selvano winkte ab.
»Um den brauchen wir uns keine Sorgen zu machen! Im Nachlaß Destillianos wurde bei der Haussuchung auch das neueste Testament des Professors gefunden. Alleinerben des gesamten liegenden und Bar-Vermögens sind seine Nichte Anita und Jose Biancodero. Da Anita Almiranda Selbstmord ohne Testament beging, fällt ihm das ganze riesige Vermögen zu.«
»Beneidenswert!«
»Wie man's nimmt. An dem Geld klebt Blut - ich fühle mich wohler!«
Primo Galbez antwortete darauf nichts. Er steckte sein altes Taschenbuch ein und erhob sich.
»Ich gehe, Chef«, sagte er gleichgültig. »Heute abend kommt ja doch nichts mehr.«
Selvano schüttelte den Kopf und sah Galbez kritisch an.
»Mir scheint, Ihnen gefällt die Auflösung des Falles nicht. Sie haben einen Narren an diesem Jose Biancodero gefressen! Von mir aus jagen Sie einem Phantom nach - mehr als blamieren können
Sie sich nicht! Und noch eins, Galbez: Von mir erwarten Sie bitte keine Unterstützung! Ihren Privatspleen zu decken, bin ich nicht bereit!«
»Wie Sie wünschen, Selvano«, sagte er höflich. »Aber wenn ich den Kerl zur Strecke bringe, verlange ich eine Extraprämie oder eine Beförderung.«
Als Dr. Fernando Albez aus dem Lissaboner Krankenhaus nach fünf Tagen entlassen wurde, war er ein mehrfacher Millionär. Aber er fühlte, daß ihn Rätsel umgaben.
Was mochte Professor Destilliano bewegen haben, sich zu erschießen, nachdem er kurz vorher noch am Telefon war und versprach, zu dem Felsenhafen hinauszukommen?
Wer hatte ihm den Leuchter an den Kopf geworfen?! Mit wem hatte er gekämpft?! Warum?! Hatte er nicht am Telefon aufgestöhnt, ehe die Verbindung abriß?! Und seine Stimme klang brüchig und zitterig! War er etwa ermordet worden?!
Und dann der Tod Anitas! War es Unfall oder auch Selbstmord gewesen?! Anita war eine verwegene, aber durchaus sichere Fahrerin gewesen, die mit Bewußtsein nie so weit von der Straße abkommen konnte, auch in der finsteren Nacht nicht!
Was war in der Rua do Monte do Castello geschehen?
Warum verunglückte Anita in der Nähe des Felsenhafens, zu dem doch Professor Destilliano kommen wollte?!
Rätsel über Rätsel!
Wohlweislich hatte ihm Kommissar Antonio de Selvano die geahnten Zusammenhänge verschwiegen. Und auch der Konsul Condes de Manolda, der zum Begräbnis seines Freundes von Amsterdam herüberkam, verschwieg Dr. Albez die für ihn bis zu einem gewissen Punkt bekannten Motive.
Manoldas Trauer am Grabe Professor Destillianos war schwer und echt. Wenn auch seine zerknirschte Miene weniger dem Toten, sondern dem Sterben des guten Schmuggelgeschäftes galt, so machte seine Rührung doch einen guten Eindruck und verschaffte dem alten Halunken einen blendenden Abgang. Denn nach Destillianos und des Kokainschmuggels Scheiden reichte Condes de Manolda seine Demission als portugiesischer Konsul ein, wurde Privatier, zog von Amsterdam weg nach Den Haag, kaufte sich ein Landhaus und hielt als stiller Edelmann den Gedanken an seinen edlen Freund Destilliano in seinem Herzen wach.
Allein zurück mit allen Besitzungen in Portugal und auf den Kanarischen Inseln blieb Dr. Fernando Albez, der als Jose Biancodero der reichste Mann von Lissabon wurde.
Zurückgezogen in einem Landhaus an der Felsenküste von Cintra, in der Nähe von Azenhas do Mar, lebte er weltfern, einsam, stumm und ernst. Oft stand er stundenlang auf dem steil ins rauschende Meer abfallenden Felsen, ließ den Wind durch seine Haare wehen und starrte hinaus in die unendliche Weite des brausenden Atlantik.
Das Glück seines Lebens war mit Anita gestorben.
Kapitel 5
Fünf Jahre gingen ins Land.
Eines Nachmittags, am 7. August 1929, hielt unten auf der Uferstraße am Felsen ein großer, schwarzer Tourenwagen, und ein gepflegter, breiter Herr in dunkelgrauem Reiseanzug und Sportmütze stieg aus. Musternd schaute er den Felsen hinauf, gab in das Innere des Wagens einige Anweisungen und machte sich dann brummend daran, den steilen Felsenweg emporzuklettern.
Der Wagen fuhr an die Seite und hielt dann wartend in einer halbkreisförmigen Einbuchtung der steilen Steinwand.
Mit hochrotem Gesicht, ein wenig außer Atem und schwitzend, trat der Besucher nach einer Weile auf das Steingartenplateau. Musternd blickte er auf das weitläufige, flache Landhaus. Er wollte gerade den Kiesweg entlang zur Tür des Baues gehen, als er aus einem der Büsche zu seiner Seite angesprochen wurde.
»Ist es möglich? Sie in Cintra?!«
Erschreckt fuhr der Fremde herum, doch dann zog ein breites Lächeln über sein wohlgenährtes Gesicht.
»Doktor Fernando Albez! Sie haben eine verteufelte Art, Ihre Gäste zu begrüßen!« Lachend gab er ihm die Hand. »Nach fünf Jahren Einsamkeit wollte ich Sie einmal in Ihrer Eremitenhöhle besuchen! Wie's scheint, läßt es sich in dieser Höhle ganz gut wohnen!« Er lachte und klopfte Albez auf die Schulter. »Auch Eremitentum kann etwas Reizvolles sein!«
»Wie kommen Sie nach Cintra, Konsul Manolda?« fragte Albez lächelnd und geleitete den Gast über den Kiesweg dem Hause zu. »Sie waren nach dem - Unglück wie verschollen!«