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»Sie heißen Antje van Brouken?« fragte er nach einer Weile. »Sie geben zu Protokoll, daß Ihr Ehemann Pieter van Brouken, von Beruf Sparkassenkassierer, um 5 Uhr heute nachmittag nicht nach Hause kam und bis zur Stunde noch nicht eingetroffen ist?«

Antje schluchzte und nickte.

»Aber von der Sparkasse ist er pünktlich wie immer weggegangen!« weinte sie.

»Das ist noch lange kein Grund zur Beunruhigung.« Trambaeren Versuchte, die kleine Frau zu trösten und lächelte schwach. »Vielleicht haben ihn unterwegs Freunde oder Bekannte aufgehalten, und Ihr Mann sitzt jetzt zu Hause, ein wenig angeheitert, und wartet auf sein spätes Abendessen.«

Empört blickte Antje hoch und sah den Inspektor feindselig an.

»So etwas tut mein Pieter nicht!« rief sie laut und stand auf.

»Ich fühle, ihm ist etwas zugestoßen.«

»Das läßt sich sofort feststellen«, sagte Trambaeren und griff zum Telefon. Er wählte eine Nummer und rief in den surrenden Apparat: »Ja! Hier Inspektor Trambaeren! Haben Sie schon die heutige Unfalliste vorliegen? Ja! Sehr gut! Sehen Sie doch bitte einmal nach, ob ein Pieter van Brouken darunter ist.«

Eine Weile war es still im Raum. Gespannt, zitternd vor Erwartung und innerer Erregung, hingen die Blicke der beiden Frauen auf den Lippen Trambaerens. Endlich krächzte eine Stimme im Apparat, und der Inspektor nickte. »Danke! Das war alles! Nichts!« sagte er langsam. »Ihr Mann ist nicht verunglückt. Es liegt keine Meldung vor!«

»Aber er ist nicht nach Hause gekommen!« rief Antje verzweifelt und klammerte sich an die Lehne des Stuhles. Sie fühlte, wie ihre Beine schwach wurden. »Er muß doch irgendwo sein.«

Inspektor Trambaeren zuckte die Achseln.

»Hatten Sie eine Auseinandersetzung?« fragte er dann.

»Nein! Wir zankten uns nie! Wir lebten glücklich miteinander.«

Die joviale Postinspektorswitwe nickte und stützte die schwankende Antje.

»Das kann ich bezeugen«, sagte sie und legte den Arm um die junge Frau. »Für Herrn van Brouken gab es nur zweierlei, das er liebte: seine Frau und sein Kind. Er war ein gewissenhafter Beamter, der nicht trank, mit Maß rauchte und keine Leidenschaften kannte. Er sammelte Briefmarken und besuchte jeden Sonntag das Kino.«

Die Schilderung des biederen Bürgers Pieter van Brouken ließ Trambaeren ein leichtes Lächeln über das Gesicht fliegen. Gleichzeitig aber verstärkte sich auch in ihm der Verdacht, daß das Nicht-nach-Hause-Kommen eines solch gewissenhaften und pedantischen Menschens tiefere und für ihn unabwendbare Ursachen haben mußte. An ein Verbrechen wagte er zunächst nicht zu denken, denn Feinde hatte Pieter van Brouken nicht besessen, ein Mord lohnte sich nicht, eine Entführung als Erpressungsgeißel war völlig unfruchtbar ... blieb also nur eine Flucht übrig, eine wohlüberlegte oder auch plötzlich notwendige Flucht.

Felix Trambaeren begann blitzschnell im Kopf die Situation durchzudenken und daraus logische Schlüsse zu ziehen. Van Brouken war Sparkassenkassierer. Angenommen, es stände eine Kassenrevision bevor, und der kleine Beamte hätte hie und da einmal in die Kasse gegriffen, um seiner kleinen Frau ein Kleid oder dem Kind ein Spielzeug zu kaufen, so wäre ein kopflose Flucht schon denkbar. Plötzlich erinnerte sich Trambaeren, daß vor sechs Wochen in Amsterdam eine große Briefmarkenauktion gewesen war, für die er als Überwachung fünf Detektive stellen mußte. Sagte nicht die dicke Witwe, daß van Brouken Briefmarken sammelte? Vielleicht war er ein leidenschaftlicher Sammler, der die fehlenden Gulden für die Auktion aus der Kasse nahm, sie nicht voll zurückzahlen konnte und nun flüchtig war?! Immerhin ein Motiv, das denkbar und gar nicht so selten war.

Trotzdem wagte es Trambaeren nicht, Antje van Brouken diesen Verdacht mitzuteilen. Ihm tat die kleine, blonde, schluchzende Frau auf einmal leid. Ihre Hilflosigkeit und ihr unerschütterlicher Glaube an Pieter schienen ihm zu stark, um sie durch einen bloßen Verdacht vollends zu zerbrechen, und so stand er auf und trat mit einer beruhigenden Geste auf Antje zu.

»Liebe Frau van Brouken, es besteht gar kein Anlaß, jetzt schon den Kopf hängen zu lassen. Vielleicht klärt sich alles als ein harmloser Scherz auf. Vor Ablauf von 24 Stunden nach dem Verschwinden kann und darf die Polizei sowieso nichts unternehmen, wenn keinerlei Anhaltspunkte vorhanden sind, die auf ein Verbrechen oder ein deutliches Motiv hinweisen. Sollte

Ihr Gatte bis morgen abend 5 Uhr noch nicht zurück sein, so kommen Sie bitte wieder zu mir. Ich werde in der Zwischenzeit vorsorglich Erkundigungen einholen.«

Dankbar drückte Antje van Brouken dem Inspektor die Hand. Mitleidvoll geleitete Trambaeren sie hinaus und wandte sich dann mit einem Ruck an den bisher stillen Ferdinand Brox in der Ecke.

»Was sagen Sie dazu, Brox?« fragte er erstaunt. »Ist das nun ein Ehemann auf Abwegen oder das Opfer eines Verbrechens?«

»Untergeordnete Beamte, mit Ausnahme der Polizei, werden selten umgebracht«, sagte Brox gemütlich. »Auf Abwegen ist der Mustergatte aber auch nicht!«

»Also - wie ich schon seit Beginn denke - auf der Flucht! Motiv: kleine Unterschlagung!«

Brox sah seinen Chef einen Augenblick erstaunt an, dann schüttelte er den Kopf.

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Alle Achtung! Aber ich glaube es nicht! Mir scheint eher, wir hätten hier einen Fall, der in der Kriminalgeschichte äußerst selten ist: ein Verschwinden ohne Motiv!«

»Ausgeführt von van Brouken selbst?«

»Ja.«

»Dann wäre das ja ein Fall von Schizophrenie! Ein Komplex, eine Wahnvorstellung!« rief Trambaeren. »Sie glauben, daß van Brouken Pathologe ist?«

»Das will ich nicht gesagt haben«, erwiderte Brox. »Aber sehen Sie sich einmal das bisherige Leben dieses Mannes an. Wie eine Maschine, pünktlich, peinlich genau, auszirkuliert, fast wie ein Roboter. Selbst im häuslichen Kreise verliert er nicht den wohlausgewogenen Rhythmus. Sicherlich ist van Brouken sehr sensibel und trotz seiner - sagen wir einmal -beamtenhaften Dickfelligkeit äußerst nervenschwach und mit

Komplexen behaftet. Ein kleiner Anstoß von außen, der einen dieser Komplexe nach oben trägt, kann schlagartig das ganze Leben dieses Menschen wandeln.«

Trambaeren hatte mit sichtlicher Spannung zugehört und dachte nun einen Augenblick scharf nach.

»Eure moderne Psychologie hat etwas Frappantes«, meinte er nach einer Weile. »Aber ob Komplexe so stark sind, um einen unbescholtenen, völlig realen Menschen mir nichts dir nichts ins Blaue flüchten zu lassen? Das scheint mir eine unwahrscheinlich kühne Kombination.«

»Komplexe können zum Mord führen«, sagte Brox ernst. »Die Leidenschaften, die verborgen im Menschen schlafen, sind ungeheuer. Wir dürfen jedenfalls bei dem Fall van Brouken keine Möglichkeit außer acht lassen. Fangen wir zunächst damit an, die realste Seite aufzurollen: die Unterschlagung.«

Trambaeren nickte und nahm den Telefonhörer ab.

Der große Polizeiapparat begann anzulaufen ...

Am nächsten Tag, gegen 6 Uhr abends, saß Antje van Brouken wieder vor Inspektor Trambaeren. Dieses Mal war Ferdinand Brox an seiner Seite und blätterte in einem dünnen Aktenstück.

»Wir haben in der Zwischenzeit alle notwendigen Erkundigungen eingezogen«, sagte er mit einer fast bedauernden Stimme, »und müssen leider gestehen, daß wir keinen Schritt weitergekommen sind. Die Auskünfte, die wir von der Direktion der Sparkasse erhielten, waren sehr lobend, die Bücher und Kassenabrechnungen stimmen bis auf den letzten Cent, Ihr Gatte war beliebt im Kollegenkreis, und es stimmt auch, daß er gestern pünktlich das Gebäude der Sparkasse verließ. Von der Ridderstraat bis zur Uilenburg begleiteten ihn sogar zwei Kollegen, bis Ihr Gatte in Richtung auf die Heerengracht abbog. Wir tappen also völlig im dunkeln und haben kein Motiv, warum Ihr Gatte verschwunden sein sollte.«