Dr. Albez war in den verflossenen Monaten zu der Überzeugung gekommen, daß es eigentlich sinnlos sei, sich hier auf seiner Felseninsel vor allen Menschen zu verschließen und daß alles, was kommen würde, ja doch nur eine vorher vom
Schicksal geknüpfte Kette sei, der er nie auf die Dauer entrinnen könnte.
Er hatte deshalb Selvano nicht von dem Schreiben aus Den Haag unterrichtet, sondern hatte seinem Personal die Anweisung gegeben, seine Sachen und den großen Reisewagen für eine längere Fahrt herzurichten. Er hatte die Komödie sogar so weit mitgespielt, daß er nach Den Haag an Manolda ein Telegramm richtete, in dem er seine Ankunft auf die Stunde genau angab und seine Freude über das Wiedersehen nach so langer Zeit bekundete.
Der Brief lautete:
»Lieber Freund Albez!
So geht das Leben nicht weiter! Nachdem ich es für dringend notwendig hielt, eine Zeitlang in die Dunkelheit zu tauchen, um für uns einige große Geschäfte unter Dach und Fach zu bringen, ist heute die Zeit gekommen, wo wir an die Auswertung meiner Bemühungen gehen müssen.
Ich habe Ihnen zunächst viel zu erklären, ehe ich zu Ihnen mit meinen Erfolgen kommen kann. Sie werden mit Recht über das Ihnen unbekannt anmutende Spiel der verschiedenen Interessengruppen erbost sein. Aber glauben Sie mir, daß all dies sein mußte, um das Erbe unseres Freundes Destilliano vor fremden Händen zu retten. Erklärungen darüber kann ich Ihnen aus verständlichen Gründen in diesem Brief nicht geben. Es ist nur so viel zu sagen, daß die Zeit des Wartens und der Ungewißheit nutzbringend angelegt wurde.
Die Konkurrenz ist in diesen Monaten so stark geworden, daß wir den Gedanken unserer Obst-Export-Firma in aller Stille begraben müssen. Dagegen ist uns durch den Tod unseres Freundes Destilliano und durch die Übernahme seines großen Erbes durch Sie eine Aufgabe erwachsen, die wir nicht übersehen dürfen. Wir haben das Werk Ricardos zu krönen und seinen Geist auf ewig für die Menschheit wachzuhalten. Mehr denn je braucht heute die Menschheit in der Not den Segen der Wissenschaft und daher auch uns, die wir sie in das Volk tragen.
Ich möchte Sie daher bitten, zu mir nach Amsterdam ins >Europäische Haus< zu kommen, wo ich Ihnen einen Plan vorlegen werde, der ganz im Sinne unseres Ricardo ist und der bereits bis ins einzelne vorbereitet ist: die Gründung der Pharmazeutischen Export-Company Manolda & Co. Ich darf Sie in den nächsten Tagen in Amsterdam erwarten. Immer Ihr Manolda.«
Dr. Albez war sich vollkommen darüber im klaren, daß dieser Brief eine Falle war. Er gab sich von Beginn an nicht der Illusion hin, Manolda würde wirklich noch leben und hätte dieses Schreiben geschickt in der Absicht, dem Zustand des Rätselratens ein Ende zu bereiten.
Jetzt geht es um das Ganze, dachte er sich. Und jetzt wird es sich vor allem auch zeigen, was hinter den geheimnisvollen Toten verborgen liegt und warum Anita sterben mußte!
Anita! Sie war noch immer der Drehpunkt seiner Gedanken, und es verging kein Tag, an dem er nicht den Vorwurf gegen sich selbst bestärkte, irgendwie an dem Tode des geliebten Mädchens mitschuldig zu sein.
Und so saß er in seiner Limousine in den dicken Polstern, blaß, vergrämt, zusammengefallen - ein Millionär, den seine Millionen fraßen.
Brummend bog der schwere Wagen um die Ecke und schoß dann mit großer Geschwindigkeit auf der Straße nach Lissabon dahin.
Als er um die Ecke der Felsenstraße bog, trat ein kleiner, unscheinbarer Mann aus einer Gesteinsnische und blickte dem Auto nach. Dann schob er ein Motorrad aus einer Felsspalte, trat den Anlasser herunter und ratterte mit springenden Rädern in entgegengesetzter Richtung davon.
Der Kreis um Dr. Albez hatte sich geschlossen.
Er schien es zu ahnen und lächelte in seinen dicken Polstern, als der Wagen sich den Vororten Lissabons näherte.
In der kleinen Villa Konsul Manoldas in Den Haag saßen um die gleiche Zeit zwei Männer vor einem kleinen, tickenden Kurzwellenempfänger und nahmen eine Meldung auf, die sie sichtlich befriedigte.
»Er kommt also«, sagte der eine mit einem südländischen Typus und einer leicht singenden Sprache. »Sie müssen versuchen, ihn entweder zu überzeugen oder ihn einfach kaltzustellen. Sie wissen, wer dieser Dr. Albez ist.«
»Pieter van Brouken.«
»Richtig. Er lebt seit sieben Jahren in einer Bewußtseinsspaltung. Will er auf unsere Vorschläge nicht eingehen, so betäuben Sie ihn mit Chloroform und bringen ihn hierher. Wir werden ihn dann mittels Schrecktherapie und durch ein Nervenserum wieder als Pieter van Brouken auf die Beine stellen.«
Der andere nickte lächelnd.
»Womit ein Dr. Albez aufgehört hat zu leben und wir einfach aufgrund eines plötzlich aufgefundenen Testaments, in dem er sich als Selbstmörder bekennt, das schöne Erbe antreten. Nicht übel, mein Freund.«
»Man muß Ideen haben«, sagte der andere selbstbewußt, »um im Leben etwas zu werden ... «
Dann bauten sie gemeinsam den Empfänger ab und versteckten die Teile in verschiedenen Kelleräumen unter Kohlen und altem Gerumpel.
Um die gleiche Zeit wurde Chefkommissar Selvano von der alarmierenden Meldung überrascht, daß sich der Rauschgiftschmuggel wieder stabilisiert habe, und zwar in Westeuropa. Man hätte große Organisationen in Aachen, Paris und Brüssel festgestellt, die Kokain, Marihuana und vor allem das neu eingeführte Dagga aus Afrika in katastrophaler Menge unter die Leute brächten. Die Spur führe nach wie vor nach Las Palmas, das als der Umschlaghafen dieser Organisation angesehen werden müsse.
Für Selvano war es somit klar, daß Biancodero und Manolda nicht die Köpfe dieser Organisation sein konnten, wie auch Destilliano vielleicht hie und da einmal ein Rauschgiftpaket verkauft haben mochte, aber niemals der Initiator dieser Verbrechen gewesen sein konnte. Das Aufleben der neuen großen Schmuggelfahrten war nun wieder ein Beweis, daß man sein Interesse auf einen völlig falschen Punkt konzentriert und die Spürnase Primo Galbez dieses Mal kläglich versagt hatte.
Kommissar Selvano war es unangenehm, daran zu denken. Niemand erinnert sich gern an einen großen Fehlschlag, und so nahm er sich vor, nie mehr an diesen Fall zu denken.
Es war der 20. Juni 1930, als die dunkle Limousine mit knirschenden Bremsen am Kai des Lissaboner Hafens hielt und Dr. Albez in einem weiten Reisemantel und mit zwei hellen Schweinslederkoffern über die Laufbrücke an Bord der >Espana< ging, die in wenigen Minuten in Richtung Marseille auslauten mußte. In dem Gedränge achtete Dr. Albez nicht auf die anderen Menschen, die zwischen Kisten, Ballen, verschalten Autos und Bergen von Koffern sich zur Paßkontrolle schoben, sondern mit dem Selbstbewußtsein des geachteten Mannes schritt er an dem Kontrolleur vorbei und reichte ihm kurz seinen Paß hin.
Der Polizist grüßte und ließ Dr. Albez passieren. In diesem Augenblick hob Primo Galbez in dem Telefonhäuschen am Kai den Hörer ab und sagte mit einer leicht ironischen Stimme :
»Lieber Selvano - unser Vogel geht an Bord der >Espana< in Richtung Marseille. Ich nehme an, daß er nach Sevilla will, um dort hinzugehen, wo er herkam. Was soll ich machen?«
Antonio de Selvano lehnte sich am anderen Ende des Drahtes in seinen Sessel zurück und spielte mit dem Bleistift.
»Sie sind ein unverbesserlicher Kauz, Galbez«, antwortete er. »Sie wissen, daß ich jede Unterstützung ablehne. Biancodero wird ein wenig in die Ferien fahren. Die Trauer strengt an! Überhaupt ein Wunder, wie Sie das wieder ausgeknobelt haben ... Aber machen Sie, was Sie wollen. Am besten ist, Sie lassen Biancodero in aller Ruhe fahren und kümmern sich lieber um den Mord in der Rua Carcalla.«
Ärgerlich hieb Primo Galbez den Hörer auf die Gabel, stieg in seinen Wagen, blickte noch einmal sehnsüchtig auf den mächtigen Leib der >Espana<, schüttelte den Kopf und brauste dann trotzig mit einem verkehrswidrigen Tempo dem Innern Lissabons zu.