»Was wird Antje sagen, wenn ich so nach Hause komme«, fuhr es ihm durch den Kopf. »Antje, die so sparsam ist, die jeden Gulden dreimal herumdreht, ehe sie ihn ausgibt.« Und er schlief am hellen Nachmittag auf der Bank ein, ließ sich bestehlen und sogar umziehen.
Dr. Albez schüttelte den Kopf und starrte vor sich auf die Straße. Die Abendschatten hatten mittlerweile die Bank erreicht und umspielten die Gestalt in dem hellen Freskoanzug. Der Brillantring am kleinen Finger der linken Hand glitzerte.
Was soll ich tun, dachte Dr. Albez. Soll ich so nach Hause gehen? Oder soll ich erst die Polizei um Hilfe anrufen? Aber man hat doch keinen Anhaltspunkt. Solch einen Anzug, wie ich ihn hatte, gibt es in Amsterdam zu Tausenden. Und was will man ausgerechnet mit einem solch abgetragenen Anzug? Wenn man stiehlt, dann sucht man sich doch Werte aus! Was wollte man an mir stehlen? Das Gummipüppchen?! Er mußte lächeln trotz seiner Ratlosigkeit. Das Gummipüppchen für Fietje ... gestohlen ...
Das Rätsel um ihn wurde riesengroß und wuchs über ihn hinaus. Er kam sich klein und armselig vor. Und er wagte nicht, nach Hause zu Antje zu gehen ...
Plötzlich hatte er einen Gedanken. Er stand auf, ging zum Park-Theater und bat den Portier, einmal telefonieren zu dürfen. Dann wählte er die Nummer der gutmütigen Postinspektorswitwe, der Etagennachbarin, und wartete, bis sich ihre Stimme im Apparat meldete.
»Ja? Ist dort Noorderstraat? Ja? Hier ist Pieter van Brouken ... kann ich meine Frau ...«
Erschreckt hielt er inne. Aus dem Apparat kam mit erhobener Stimme eine Menge von Schimpfworten und Frechheiten, die ihn verstummen ließ. Hilflos hörte er die Worte »Flegel, Unverschämtheit, Polizei benachrichtigen, Lümmel« und legte dann zitternd den Hörer auf die Gabel. Als er sich umdrehte, sah er, wie der Portier sich in eine Ecke gedrückt hatte und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Auf seine Frage gab er keine Auskunft, sondern stierte ihn stumm an. Kopfschüttelnd verließ Pieter van Brouken - so wollen wir ihn wieder nennen -das Parktheater und machte sich schweren Herzens auf, Antje unvorbereitet von dem ungeheuerlichen Geschehen zu unterrichten.
Je näher er der Noorderstraat kam, um so langsamer wurde sein Schritt. Wie sage ich es nur Antje, grübelte er, wie kann ich es vermeiden, daß sie bei meinem Erscheinen, bei meinem neuen Anzug und dem Panamahut nicht gleich vor Schreck in
Ohnmacht fällt? Antje ist doch so zart und fein, und sie regt sich immer so auf ... der Arzt sagte doch mal, man müßte sie schonen ... Ob man erst den Kopf durch die Tür steckt und sagt: »Antje, bitte erschrick nicht ... ich habe eine ganz große Überraschung für dich ... aber keine gute ...« Dann wird sie vorbereitet sein und nicht gleich losweinen ...
Vor seinem Hause hielt Pieter van Brouken an. Er blickte empor und wunderte sich, daß Antje andere Gardinen an den Fenstern hatte. Heimlich gekauft, dachte er sich, vom Wirtschaftsgeld abgespart, die gute Antje. Und er lächelte glücklich.
Zögernd ging er die zwei Treppen empor und stand dann vor der Tür. >Van Brouken< stand da auf einem billigen Emailleschild. Drinnen in der Wohnung hörte er Antje laufen ... eine Kinderstimme rief dazwischen, dann polterte etwas zu Boden ... Fietje, dachte von Brouken, er hat etwas fallen lassen. Jetzt wird Antje herbeispringen und es schnell wegräumen, damit er, der Papa Pieter, wenn er nach Hause kommt, nichts merkt. Oh, er kannte jeden Handgriff seiner Antje, alle kleinen und großer! Geheimnisse ... die kleine, blonde Antje.
Mit ein wenig zitterndem Zeigefinger drückte er auf die Klingel. Schrill klang der Ton in der Wohnung. Durch die Zimmer kam ein leichter Schritt, ein Schlüssel drehte sich von innen im Schloß, die Klinke ging herunter.
Da drückte Pieter van Brouken die Tür einen Spalt auf und steckte den Kopf hinein.
»Antje«, sagte er, »ich habe ...«
Ein schriller, nie gehörter, das Blut erstarrender Schrei gellte durch die Wohnung, mit leblosen Augen starrte ihn Antje an und sank dann an der Tür zu Boden.
Mit einem Satz war Pieter van Brouken in der Wohnung, hob die kaum atmende Antje auf, trug sie in das Wohnzimmer, legte sie auf das alte Sofa, rannte in die Küche, wo ihn ein ihm unbekannter achtjähriger Junge erstaunt und erschreckt anstarrte, holte ein Glas Wasser und ein Handtuch, rannte zurück in das Zimmer, knöpfte Antje die Bluse auf, legte ihr eine Kompresse auf die Stirn und begann dann, ihr Herz unter der zarten, kaum noch atmenden Brust zu massieren.
An der Tür schellte es. Van Brouken rannte auf den Flur und öffnete. Die dicke Postinspektorswitwe stand davor, sah ihn an, wurde zu Stein, schrie dann auf und rannte mit fliegenden Röcken zurück in ihre Wohnung. Ärgerlich schloß Pieter die Tür, rannte zurück ins Zimmer, erneuerte die Kompresse und massierte weiter das Herz der wie tot daliegenden Antje.
Alles wegen eines Diebstahls, dachte er. Ich werde doch die Polizei rufen. Und Antje hätte ich doch vorher anrufen sollen, aber die dicke Witwe war ja so ungezogen am Telefon. Und wie zart Antje ist. Keine Aufregung kann sie vertragen. Man müßte sich einmal einen Sonderurlaub nehmen und mit ihr an die Badeküste fahren. Zwei Wochen Erholung würden Antje bestimmt guttun.
Dabei massierte er und küßte immer wieder die kalten Lippen und die weiße Stirn, über die wirr die blonden Haare hingen.
Unten auf der Straße knirschten die Bremsen eines Autos. Harte Männerstiefel donnerten die Treppe hinauf. Sie machten auf seiner Etage halt. Dann schellte es wieder.
Der Arzt, dachte Pieter. Die Witwe hat sofort den Arzt angerufen. Sie ist doch nicht so böse, wie ich dachte.
Er stand auf, legte die Kompresse noch einmal zurecht und ging dann hinaus.
Als er öffnete, standen drei Männer vor der Tür und gingen an ihm vorbei in die Wohnung. Der dritte schloß die Tür und stellte sich davor.
»Wer sind Sie?« fragte der eine in einem harten Befehlston.
»Pieter van Brouken! - Und Sie?«
Eine helle Marke blinkte unter seinen Augen.
»Kriminalpolizei!«
Als man Pieter van Brouken abführte, war Antje wieder aus ihrer tiefen Ohnmacht erwacht und saß weinend in der Küche. Fietje stand ungelenk um sie herum und fragte hundertmal, warum der Vater denn wieder fortging.
Unten im Wagen des Kommissars Trambaeren setzte sich Ferdinand Brox neben van Brouken und legte ihm die Hand auf den schlaff herunterhängenden Arm.
»Haben Sie keine Angst«, sagte er in einem sanften Ton. »Es ist nur eine Formsache. Sie werden staunen, wenn man Ihnen auf dem Präsidium ein Aktenstück zeigt. Und dann müssen Sie sich erinnern, verstehen Sie, Sie müssen sich erinnern, wo Sie sieben Jahre lang gesteckt haben?!«
»Sieben Jahre?! Aber ich bin doch um fünf Uhr auf der Bank an der Nieuwe Heerengracht eingeschlafen, bestohlen worden, in einen fremden Anzug wurde ich gesteckt ... ich habe es Ihnen schon zehnmal gesagt ... «
Ferdinand Brox lächelte.
»Es hat keinen Zweck, den Unzurechnungsfähigen zu spielen. Sie haben uns vor sieben Jahren einen tollen Streich gespielt, den müssen Sie jetzt bekennen. Sonst nichts. Wegen der Akten und der Schließung des Falles. Alles andere ist Ihre Privatangelegenheit. - Aber um eines kommen Sie nicht herum: Wo waren Sie von Juni 1923 bis Juni 1930?!«
Pieter van Brouken starrte den Beamten an. Seine Augen wurden starr, aller Glanz wich aus ihnen.
»Welchen Tag schreiben wir heute?« sagte van Brouken leise. Seine Stimme war heiser, rissig.
»Den 29. Juni 1930 ...«
Da sackte Pieter van Brouken zusammen. Sein Kopf fiel zur Seite auf den Schoß Ferdinand Brox'.
»Schnell zum Präsidium!« schrie Felix Trambaeren. »Wir haben ihn soweit!«
Amsterdam und mit ihm die ganzen Niederlande hatten ihre Sensation! Die Morgenzeitungen wurden den Trägern und Verkäufern noch druckfeucht aus der Hand gerissen, in den Nachrichten nahm die Meldung des Falles Pieter van Brouken die erste Stelle vor den politischen Meldungen ein - etwas, was es seit Bestehen des Rundfunks noch nicht gegeben hatte! -, und die Bildreporter aller großen europäischen Illustrierten belagerten die kleine Wohnung in der Noorderstraat oder die Sparkasse von Amsterdam, um wenigstens ein kleines Bild des Mannes zu erjagen, der zum größten Rätsel seiner Zeit geworden war.