»Wir dürfen uns gratulieren«, sagte er, aber sein Gesicht war ernst. »Das war ein schneller Fall und der merkwürdigste Selbstmord, den ich bisher kenne ...«
Die Morgenzeitungen brachten die Lösung des Rätsels um Pieter van Brouken schamhaft auf der Lokalseite. Ein Selbstmord eines kleinen Beamten war nicht sonderlich interessant und ging in erster Linie die trauernden Hinterbliebenen an.
Die Steckbriefe mit dem großen Bild wurden abgerissen oder durch Plakate überklebt. Wer achtet denn auf das lächelnde,
wohlgenährte Gesicht eines Sparkassenbeamten!?
Die Gesprächsthemen in der Straßenbahn gingen wieder auf die große Inflation in Deutschland über. Wenn die Deutschen das Jahr 1923 überleben, seien sie gerettet, hieß es.
Auch um Antje van Brouken und den kleinen Fietje machte man sich keine Sorgen.
Die Sparkassendirektion hatte in einer Sondersitzung beschlossen, aufgrund des besonderen und einmaligen betrüblichen Umstandes der jungen Witwe ausnahmsweise die im Falle eines regulären Ablebens des Beamten van Brouken zustehende Vollpension zu gewähren, womit der Lebensunterhalt der hinterlassenen Familie gesichert und ein leidlich sorgenfreies Auskommen garantiert war.
Zwar hatte man die Leiche noch nicht gefunden, aber das schien auch aussichtslos, denn die engen Seitengrachten waren zum Teil tief und am Boden verschlammt und ließen ihre Opfer vom Grund nicht los. Die Polizei hatte wohl die in Betracht kommenden Grachten mit Stangen und Netzen abgesucht, aber ohne Erfolg.
Die Akte Pieter van Brouken war geschlossen.
Trübsinn mit nachfolgendem Selbstmord.
Na ja ...
Pieter van Brouken wurde vergessen ...
Kapitel 2
Als Pieter van Brouken an jenem verhängnisvollen Freitag gegen 7 Uhr abends erwachte, wußte er absolut nicht, wo er sich befand.
Er fühlte sich frisch, von einer nie gekannten Elastizität beseelt, so, als sei er neugeboren, und als er jetzt erstaunt aufstand und sich mit noch größerem Staunen umblickte, straffte sich sein Körper und verlor die Weichheit, die das regelmäßige Leben in ihm ausgeprägt hatte.
Mit großen, unwissenden Augen sah er sich nach allen Seiten um und schüttelte den Kopf.
»Wo bin ich denn bloß?« fragte er sich leise und trat von der Bank weg auf die Straße. »Wie komme ich bloß in diese Stadt?«
Die versinkende Sonne zauberte lange Schatten über die Grachten. Noch war die Luft heiß, aber die einfallende Dämmerung trübte die Konturen und machte die Häuser stumpf und dumpf.
Pieter van Brouken sah sich wieder nach allen Seiten um, blickte auf die Menschen, auf die Nummernschilder der Autos, auf die Schriften und Plakate in den Läden und schüttelte den Kopf.
Ein fremdes Land, dachte er erschreckt. Wie komme ich in ein fremdes Land?
Er zog den Hut und erstarrte in Verwunderung. Was trug er da für einen unmöglichen Filz? Wo war denn sein weißer Panama? Er blickte an sich herunter, sah den biederen, grauen Kammgarnanzug und befühlte sich mit wachsender Erregung.
Wie kam er in die fremden Kleider? Was sollte das alles bedeuten? Wo war er denn überhaupt?!
Er griff in die Seitentasche, holte eine abgegriffene Brieftasche aus billigstem Schalleder heraus und starrte verwundert auf einen Paß, der in der Mappe lag.
»Pieter van Brouken«, las er stockend. »Amsterdam, Noorderstraat 5. - Blöd, ausgesprochen blöd!« Er betrachtete den Paß von allen Seiten und runzelte die Stirn. »Wie kommt dieser fremde Ausweis mit dem fremden Anzug in meinen Besitz? Himmelherrgott, wo war er denn überhaupt?!«
Er grüßte und sprach einen vorübergehenden Herrn an. Dieser sah ihn groß an, lächelte, zuckte mit den Schultern und antwortete ihm in einer fremden, hart klingenden Sprache.
Mit einer Entschuldigung wandte sich Pieter ab und fragte den nächsten. Dasselbe Schulterzucken, dieselbe fremde, harte Sprache ...
Eine ungeheure Unruhe durchtobte das Innere van Broukens.
Er war ja in einem völlig fremden Land, ausgesetzt, ohne Geld - wie er sofort feststellte -, in fremden Sachen mit einem fremden Paß!
Er rannte die Heerengracht hinab bis zum Parktheater und starrte auf die breiten Entrepot-Docks, die vor ihm lagen.
Überall Wasser, rief er sich zu, überall Kanäle, Brücken, Kähne, Häuser auf Pfählen, ein Dock, in der Ferne ein Hafen ... Wo bin ich denn?
Venedig? Nein, das sind keine Italiener, die dort über die Straßen gehen.
Kopenhagen? Schon eher möglich.
Amsterdam? Das stand ja in dem fremden Paß! Aber Amsterdam? Wie kam er, ohne es zu wissen, nach Amsterdam?
»Ich muß zum Konsulat!« sagte er laut und fühlte neuen Mut, als er seine eigene Stimme hörte. »Hier muß es doch ein Konsulat geben!«
Höflich sprach er den ersten Mann, der ihm entgegenkam, an und fragte ihn.
»Konsulat Portugal?« sagte er, darauf vertrauend, daß er verstanden würde.
Der Mann nickte und erklärte ihm in der fremden Sprache genau den Weg. Da er aber sah, daß der Fremde ihn nicht verstand, rief er eine Taxe herbei, nannte die Adresse und deutete an, der Fremde möge einsteigen.
Van Brouken bedankte sich höflich, stieg ein und hielt bald in einer Vorstadtstraße vor einer großen Villa, von deren Balkon die portugiesische Fahne wehte und das farbige Landeswappen glänzte.
Tief aufatmend stieg er aus, verständigte den Fahrer durch Zeichen, daß er warten solle, und klingelte stürmisch an der mit Glasmalerei verzierten Tür.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür öffnete und ein Herr, anscheinend ein Sekretär, heraustrat.
»Sie wünschen?« fragte er höflich und musterte erstaunt und kritisch den merkwürdigen späten Besucher.
»Ich muß sofort den Herrn Konsul sprechen!« rief van Brouken und trat einen Schritt näher. »Es ist dringend, äußerst dringend.«
Er wurde in eine Art Empfangsraum geleitet und gebeten, Platz zu nehmen. Erregt rannte er im Zimmer hin und her und trommelte an die Fensterscheiben, überflog hastig und ohne den Inhalt in sich aufzunehmen eine portugiesische Zeitung und rannte dann wieder von einer Ecke in die andere.
Endlich öffnete sich die Tür zum Nebenraum, und der Konsul bat ihn, einzutreten.
Don Manolda war ein großer, grauhaariger, schlanker Herr spanischer Abstammung, dem man die Würde des Edelmannes und die Kultur seines Hauses auf den ersten Blick ansah und dessen gepflegte Umgangsformen und halblaute, fast samtähnliche Stimme nie einer unbedachten Erregung fähig schien.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Mein Name ist Fernando Albez«, sagte van Brouken mit fliegendem Atem. »Doktor Fernando Albez, Lissabon, wohnhaft in der Rua do Monte do Castello 12. Ich bin entführt worden in dieses für mich völlig fremde Land und bitte dringendst um Ihre Hilfe!«
Don Manolda starrte den Besucher an. Vielleicht zum erstenmal in seinem Leben war er aus der Fassung gebracht und wußte nicht sofort zu antworten.
»Entführt?« sagte er nach einer Pause leise. »Aus Lissabon nach Amsterdam entführt?«
»Aha! In Amsterdam befinde ich mich also!« Erregt warf van Brouken den Paß auf den Tisch und rannte wieder im Zimmer hin und her. »Da, diesen Paß fand ich in einer ekelhaft alten Brieftasche. Van Brouken, oder wie das ausgesprochen wird! Wer ist van Brouken?! Wie komme ich zu diesen Kleidern, zu diesem scheußlichen Hut? Ich trage Panamastroh und im Sommer einen weißen Rohseidenanzug - aber nicht solch grobes Zeug! Und kein Geld in der Tasche, nichts! Ich wache aus einem Schlaf auf - ich erinnere mich, daß ich mich vergangenen Sonntag auf einer Landpartie auf eine Wiese legte und einschlief- und wache hier in Amsterdam beraubt und entführt auf!«
Der Konsul setzte sich erstarrt in seinen Sessel und blickte van Brouken entsetzt an.
»Sonntag, sagten Sie? Heute ist Freitag! Sie haben 5 Tage geschlafen?«