Prolog
Nadina, die russische Tänzerin, die Paris im Sturm erobert hatte, verneigte sich unter dem rauschenden Applaus. Das männliche Publikum trampelte vor Begeisterung, der Vorhang hob sich wieder und wieder. Endlich verließ sie die Bühne. Ihr Manager schloss sie begeistert in die Arme.
«Herrlich, meine Liebe, herrlich! Heute haben Sie sich selbst übertroffen.» Galant küsste er sie auf beide Wangen.
Madame Nadina ließ es wie immer geduldig über sich ergehen und verschwand dann in ihrem Ankleidezimmer, das ein Meer von Blumen war. Jeanne, ihre Garderobenfrau, reichte ihr eine Karte.
«Wünschen Sie den Herrn zu empfangen, Madame?», fragte sie. Nadina warf einen Blick auf die Karte; sie las den Namen «Graf Sergius Pawlowitch», und im selben Moment leuchteten ihre Augen freudig auf.
«Rasch meinen Umhang, Jeanne, ich will den Grafen empfangen. Und sobald er hier ist, können Sie gehen.»
«Bien, Madame.»
Die Tänzerin legte sich ein prächtiges Etwas aus maisfarbener Seide und Hermelin um. Sie lächelte ihr Spiegelbild an und nickte zufrieden.
Ihr Besucher ließ nicht lange auf sich warten – ein Mann mittlerer Größe, sehr schlank, sehr elegant, sehr bleich und ohne besonders auffallende Merkmale, abgesehen von seinem Benehmen. Mit übertriebener Höflichkeit neigte er sich über die dargereichte Hand.
«Madame, ich bin überglücklich, Sie begrüßen zu dürfen.»
Das waren die letzten Worte, die Jeanne hörte, ehe sie das Zimmer verließ. Nadinas Lächeln vertiefte sich.
«Es ist wohl besser, wenn wir nicht Russisch sprechen, lieber Graf», sagte sie, «obwohl wir anscheinend Landsleute sind.»
«Da wir beide kein Wort Russisch verstehen, Verehrteste, dürfte das entschieden vorzuziehen sein», erwiderte der Graf lächelnd.
Die folgende Unterhaltung wurde auf Englisch geführt, und sie ließ keinen Zweifel daran offen, dass dies die Muttersprache des Grafen war. Seine übertriebenen Gebärden hatte er abgelegt wie ein Verwandlungskünstler.
«Ich gratuliere zu Ihrem Erfolg», sagte er.
«Es ist nicht mehr das Gleiche wie früher; ich bin etwas beunruhigt», entgegnete Nadina. «Die Gerüchte, die während des Kriegs aufkamen, sind nie ganz verstummt. Ich habe ständig das Gefühl, beobachtet zu werden.»
«Man hat Ihnen aber nie etwas anhaben können?»
«Dazu sind die Pläne unseres Herrn und Meisters viel zu sorgfältig gesponnen.»
«Lang lebe der ‹Colonel›», sagte der Graf lächelnd. «Haben Sie die erstaunliche Neuigkeit vernommen, dass er sich vom Geschäft zurückziehen will? Zurückziehen – wie ein kleiner Krämer!»
«Oder wie jeder große Geschäftsmann. Der ‹Colonel› ist nie etwas anderes gewesen als ein sehr tüchtiger Geschäftsmann. Er organisiert Verbrechen, wie ein anderer eine Schuhfabrik aufzieht. Ohne sich selbst jemals bloßzustellen, hat er eine ganze Serie von Straftaten geplant und ausführen lassen, die ihm ein riesiges Vermögen einbrachten. Und dabei war ungefähr jeder Geschäftszweig vertreten: vom Juwelendiebstahl über Erpressung, Fälschung, Spionage und Sabotage bis zum diskreten Mord. Alles schlug in sein Fach. Und er ist ein kluger Mann: Er weiß, wann er aufzuhören hat. Das Spiel wird gefährlich? Er zieht sich zurück – mit unermesslichem Reichtum.»
«Hm», meinte der Graf. «Für uns ist es etwas peinlich. Wir stehen nun sozusagen auf der Straße.»
«Aber wir sind bezahlt worden, sehr freigebig bezahlt.»
Der leichte Spott dieser Worte ließ den Grafen aufhorchen. Nadina lächelte vor sich hin. Doch er fuhr diplomatisch fort: «Ja, der ‹Colonel› ist immer freigebig gewesen. Darin lag ein Teil seiner Erfolge – darin, und in seiner Kunst, stets einen geeigneten Sündenbock zu finden, wenn es nötig wurde. Ein kluger Kopf, unzweifelhaft ein kluger Kopf! Und trotzdem abergläubisch wie eine Frau. Vor Jahren ließ er sich einmal wahrsagen. Das Weib prophezeite ihm ein Leben voller Erfolge, doch schließlich würde ihn eine Frau zur Strecke bringen.»
Nadina blickte interessiert auf.
«Das ist sehr merkwürdig», sagte sie. «Eine Frau!»
«Vielleicht wird er jetzt eine Frau heiraten, der seine Millionen rascher durch die Finger gleiten, als er sie verdiente.»
«Nein, das glaube ich nicht.» Nadina schüttelte den Kopf. «Hören Sie, mein Freund, ich fahre morgen nach London.»
«Und Ihr Vertrag?»
«Ich werde nur eine einzige Vorstellung versäumen. Außerdem reise ich inkognito. Kein Mensch wird also jemals erfahren, dass ich Frankreich verlassen habe. Und was glauben Sie, warum ich das tue?»
«Sicher fahren Sie nicht zum Vergnügen nach England. Scheußlich nebliger Monat. Es wird sich also um Geschäfte handeln.»
«Stimmt!» Sie erhob sich und stand ihm gegenüber, jede Linie ihres graziösen Körpers stolz und arrogant. «Ich habe eine Abrechnung mit unserem Herrn und Meister zu halten. Ich – eine Frau! – habe es gewagt, seine Pläne zu durchkreuzen. Erinnern Sie sich an den Fall mit den Diamanten von Kimberley?»
«Ja, natürlich. Das geschah doch kurz vor Ausbruch des Kriegs, nicht wahr? Ich hatte damit nichts zu tun und kenne die Einzelheiten nicht. Die Sache wurde geheim gehalten, soviel ich weiß. Einen guten Fischzug hat er jedenfalls gemacht.»
«Hunderttausend Pfund in Diamanten! Zwei von uns haben die Sache durchgeführt, natürlich genau nach den Plänen des ‹Colonel›. Und damals habe ich meine Chance wahrgenommen. Ich will Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählen, doch eines dürfen Sie wissen: Ich habe Beweise gegen den ‹Colonel› in der Hand, gute – diamantene Beweise. Bisher habe ich keinen Gebrauch von ihnen gemacht, doch jetzt, da er uns fallen lassen will, jetzt werde ich mit ihm abrechnen. Und diese Abrechnung wird ihn sehr viel Geld kosten.»
«Großartig», sagte der Graf. «Tragen Sie diese diamantenen Beweise stets bei sich?»
Nadina lachte. «Halten Sie mich für eine Närrin? Die Steine sind an einem sicheren Ort, wo kein Mensch auch nur im Traum daran denken wird, sie zu suchen.»
«Sind Sie nicht etwas zu tollkühn? Der ‹Colonel› ist nicht der Mann, der sich leicht erpressen lässt.»
«Ich fürchte ihn nicht», antwortete sie scharf. «In meinem ganzen Leben hatte ich nur vor einem einzigen Manne Angst, und der ist tot.»
«Hoffen wir also in Ihrem Interesse, meine Gnädigste, dass er nicht wieder lebendig wird.»
«Was wollen Sie damit sagen?», rief die Tänzerin entsetzt.
Der Graf schien erstaunt.
«Ich meinte nur, dass seine Auferstehung für Sie peinlich werden könnte», erklärte er. «Ein Scherz, nichts weiter.»
Sie seufzte erleichtert auf. «Er ist im Krieg gefallen. Ein Mann, der mich einmal geliebt hat.»
«In Südafrika?»
«Ja, in Südafrika.»
«Soviel ich weiß, ist das Ihre Heimat, nicht wahr?»
Sie nickte nur. Ihr Besucher stand auf und griff nach seinem Hut.
«Nun, Sie werden wohl wissen, was Sie tun. Aber nach meiner Ansicht ist der ‹Colonel› gefährlicher als jeder enttäuschte Liebhaber. Er ist ein Mensch, den man sehr leicht unterschätzt.»
Sie lachte verächtlich. «Nach all diesen Jahren dürfte ich ihn zur Genüge kennen.»
«Wirklich? Sind Sie dessen so sicher?»
«Oh, keine Angst. Ich spiele dieses Spiel nicht allein. Das Postschiff aus Südafrika geht morgen in Southampton vor Anker, und an Bord befindet sich ein Mann, der gewisse Befehle von mir ausgeführt hat. Der ‹Colonel› hat es nicht mit mir allein zu tun.»
«Halten Sie das für klug?»
«Es ist notwendig.»
«Und sind Sie dieses Mannes so sicher?»
Ein seltsames Lächeln umspielte den Mund der Tänzerin. «Ganz sicher! Er ist zwar nicht tüchtig, aber völlig vertrauenswürdig – für mich wenigstens. Ich bin nämlich mit ihm verheiratet.»
1
Jedermann bedrängte mich, diese Geschichte aufzuschreiben, und ich muss selbst zugeben, dass ich wohl die geeignetste Person dazu bin. Von Anfang an habe ich die Geschehnisse miterlebt, war in alle Gefahren verwickelt und durfte selbst die Lösung herbeiführen. Schließlich hatte ich noch das Glück, dass Sir Eustace Pedler mir sein Tagebuch zur Verfügung stellte, so dass ich auch kleine Lücken ausfüllen kann. So sei es also – und Anne Beddingfeld beginnt die Geschichte! Ich habe mich immer nach Abenteuern gesehnt, denn mein Leben zu Hause war entsetzlich eintönig. Mein Vater, Professor Beddingfeld, galt als eine der größten Autoritäten für die Urgeschichte der Menschheit. Auf diesem Gebiet war er unübertroffen; sein Geist lebte in der Altsteinzeit, und jede Unbequemlichkeit des Daseins gipfelte für ihn darin, dass sich sein Körper mit der modernen Welt abzufinden hatte. Papa schätzte unsere Zeit gar nicht; bereits vom Neolithikum an war die Menschheit für ihn nur noch Herdenvieh.