«Ich muss es wohl wissen», entgegnete er lächelnd, «denn ich bin es selbst.»
14
Annes Bericht
In der Nacht nach dem Kostümfest fand ich, dass es nun an der Zeit sei, einen zweiten Menschen ins Vertrauen zu ziehen. Bis jetzt hatten mir die Nachforschungen auf eigene Faust Vergnügen bereitet, doch plötzlich sah alles anders aus. Ich zweifelte an meinem eigenen Urteil, und zum ersten Mal überfiel mich ein Gefühl der Einsamkeit und Hilflosigkeit.
Ich begann zu überlegen. Zuerst dachte ich an Colonel Race. Er schien mich gern zu haben. Außerdem war er kein Narr. Dennoch zögerte ich. Er würde mir zweifellos die ganze Geschichte aus der Hand reißen. Und da gab es noch einen anderen Grund, den ich zwar nicht einmal mir selbst gegenüber zugeben wollte, aber… nein, ich konnte mich nicht an Colonel Race wenden.
Dann dachte ich an Mrs Blair. Auch sie war sehr freundlich zu mir, obgleich das wahrscheinlich nur eine Augenblickslaune war. Aber es lag an mir, ihr Interesse zu wecken. Sie war mir sehr sympathisch. Ja, ich war entschlossen, mich ihr anzuvertrauen – und zwar sofort.
Dann erinnerte ich mich, dass ich ihre Kabinennummer nicht kannte. Doch die Nachtstewardess könnte mir helfen.
Ich läutete, und nach einiger Zeit erschien ein Steward und gab mir die gewünschte Information.
«Wo ist denn die Stewardess?», fragte ich.
«Ihr Dienst geht um zehn Uhr zu Ende.»
«Nein, ich meine die Nachtstewardess.»
«Wir haben keine Nachtstewardessen, Miss.»
«Aber… aber vorige Nacht kam doch eine Stewardess zu mir, so um ein Uhr herum.»
«Sie haben sicher geträumt, Miss. Nach zehn Uhr gehen alle Stewardessen schlafen.»
Er zog sich zurück, und ich musste diesen Brocken erst mal verdauen. Wer war die Frau, die am Zweiundzwanzigsten nachts in meine Kabine gekommen war? Mir wurde etwas unbehaglich, als ich mir die Schlauheit und Dreistigkeit meines Widersachers vergegenwärtigte. Dann jedoch nahm ich mich zusammen und ging auf die Suche nach Mrs Blairs Kabine. Sie hatte die Nummer einundsiebzig.
«Wer ist da?», fragte sie auf mein Klopfen.
«Ich bin es, Anne Beddingfeld.»
«Kommen Sie herein, Zigeunerin.»
Kleider und Wäschestücke lagen verstreut herum, und Mrs Blair trug den entzückendsten Kimono, den man sich vorstellen kann, ganz in Orange und Gold und Schwarz gestickt.
«Mrs Blair», sagte ich ohne jede Einleitung, «ich möchte Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, wenn Sie nicht zu müde sind.»
«Ich bin es gewohnt, spät zu Bett zu gehen», erwiderte Mrs Blair lächelnd und zeigte ihre Grübchen. «Und ich freue mich, Ihre Geschichte zu hören. Setzen Sie sich, und fangen Sie an.»
Ich erzählte ihr alles und bemühte mich, keine Einzelheit zu übergehen. Am Schluss seufzte sie tief auf. «Es ist die aufregendste Geschichte, die mir je zu Ohren gekommen ist. Aber als Erstes hören Sie jetzt endlich auf, mich Mrs Blair zu nennen. Ich heiße Suzanne. Einverstanden?»
«Mit dem größten Vergnügen – Suzanne!»
«Und nun zur Sache. In diesem Sekretär von Sir Eustace – nicht in Pagett, sondern dem andern, der gestern Nacht auftauchte – erkannten Sie also den Mann, der Sie um Hilfe bat?» Ich nickte nur.
«Das verwickelt also Sir Eustace zum zweitenmal in dieses Durcheinander. Diese Ausländerin wird in seinem Haus ermordet, und es ist sein Sekretär, der einen Dolchstich erhält. Ich verdächtige Sir Eustace natürlich nicht, aber das kann kein Zufall sein. Irgendein Zusammenhang muss bestehen, wenn wir ihn auch noch nicht erkennen können. Und dann diese Geschichte mit der Nachtstewardess», schloss sie gedankenvoll. «Wie sah sie denn aus?»
«Ich habe sie kaum beachtet. Ich war ja so aufgeregt und gespannt, und ihr Erscheinen bedeutete eine solche Enttäuschung! Aber… doch, ich glaube, ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Nur weiß ich nicht, wo ich sie gesehen haben könnte.»
«Es war aber bestimmt eine Frau, nicht etwa ein verkleideter Mann?»
«Sie schien recht groß für eine Frau», gab ich zu.
«Hm; wohl kaum Sir Eustace, und auch nicht Pagett… halt!»
Sie nahm ein Stück Papier und einen Bleistift zur Hand und begann fieberhaft zu zeichnen. Dann begutachtete sie ihre Arbeit. «Die Ähnlichkeit mit Reverend Edward Chichester ist gut getroffen. Nun alles Drum und Dran – so!» Sie reichte mir das Blatt. «Ist das Ihre Stewardess?»
«Ganz genau!», rief ich begeistert. «Suzanne, wie klug von Ihnen!»
Sie wies das Kompliment mit einer Handbewegung ab.
«Dieser Chichester hat schon lange mein Misstrauen erweckt. Erinnern Sie sich, wie er käsebleich wurde und seine Tasse fallen ließ, als wir kürzlich den Namen Crippen erwähnten?»
«Und er wollte unbedingt Kabine siebzehn haben!»
«Ja, soweit passt alles ganz gut zusammen. Aber was bedeutet es? Was sollte um ein Uhr nachts in Ihrer Kabine geschehen? Ob der Sekretär auf dem Weg zu einer Verabredung war, die der Täter verhindern wollte? Doch mit wem? Möglicherweise mit Chichester oder Pagett.»
«Das halte ich für unwahrscheinlich», wandte ich ein. «Pagett kann er jederzeit sehen und sprechen.»
Ein paar Minuten saßen wir schweigend da, dann nahm Suzanne eine neue Fährte auf.
«Wäre es möglich, dass in Ihrer Kabine etwas versteckt ist?»
«Nicht ausgeschlossen», antwortete ich. «Das würde erklären, warum am nächsten Morgen alle meine Sachen durchsucht wurden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, um was es sich dabei handeln sollte.»
«Vielleicht um Ihren kostbaren Zettel?»
Ich schüttelte zweifelnd den Kopf. «Wozu? Es steht nur ein Datum darauf – und das war bereits überholt.»
«Stimmt», sagte Suzanne nickend. «Haben Sie den Zettel übrigens hier? Ich möchte ihn gerne sehen.»
Natürlich hatte ich ihn als Beweismaterial Nummer eins mitgenommen und gab ihn Suzanne, die ihn stirnrunzelnd prüfte. «Nach der Zahl 17 steht ein Punkt; warum nicht auch nach der 1?»
«Dort ist ein Zwischenraum.»
«Ja, aber…»
Plötzlich stand sie auf und hielt das Papier ganz nahe ans Licht. Mit unterdrückter Erregung rief sie: «Anne, das ist gar kein Punkt! Das ist ein Fehler im Papier, sehen Sie? Der Punkt hat also gar keine Bedeutung, und wir müssen nur die Zwischenräume beachten!»
Ich hatte mich neben Suzanne gestellt und las die Ziffern nun in ihrer neuen Bedeutung: 1 71 22.
«Dieselben Ziffern – und doch eine ganz andere Lösung», sagte Suzanne. «1 bleibt ein Uhr und 22 das Datum; aber die Kabine ist nicht mehr 17, sondern 71. Anne, einundsiebzig! Meine Kabine!»
Wir starrten einander an, so begeistert über unsere Erkenntnis, als ob wir damit bereits den ganzen Fall gelöst hätten. Doch endlich fand ich mich wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückversetzt.
«Aber Suzanne – in Ihrer Kabine ist am Zweiundzwanzigsten gar nichts geschehen!»
Auch ihr Gesicht zeigte deutliche Enttäuschung. «Das ist richtig», murmelte sie.
Mir kam ein neuer Gedanke. «Hatten Sie nicht zu Beginn der Reise eine andere Kabine?»
«Ja. Der Zahlmeister hat mir diese erst später überlassen, weil sie wider Erwarten nicht besetzt wurde.»
«Wir müssen versuchen herauszufinden, für wen sie ursprünglich gebucht wurde.»
«Das ist nicht nötig, ich weiß!», rief Suzanne. «Der Zahlmeister hat es mir erzählt. Die Kabine war vorgesehen für eine Mrs Grey; aber das soll nur ein Deckname für die berühmte Nadina gewesen sein. Sie haben den Namen sicher schon gehört: Madame Nadina, die große russische Tänzerin. In London ist sie nie aufgetreten, aber ganz Paris lag ihr zu Füßen. Während des Kriegs hat sie dort unerhörte Triumphe gefeiert. Sie soll ein richtiges Biest sein, aber äußerst fesselnd. Der Zahlmeister war sehr enttäuscht, dass sie nicht an Bord kam, und später hat mir Colonel Race allerhand von ihr erzählt. In Paris waren böse Gerüchte über sie im Umlauf; man hatte sie der Spionage verdächtigt, konnte aber nichts beweisen. Ich vermute, dass Colonel Race damals wegen dieser Sache nach Paris beordert wurde. Jedenfalls wusste er interessante Dinge darüber. Es soll eine regelrecht organisierte Bande gewesen sein, und man nahm an, dass der Anführer ein Engländer war. Man nannte ihn allgemein den ‹Colonel›, doch es gelang nie, seine Identität festzustellen. Er muss der Kopf einer größeren Organisation von internationalen Verbrechern gewesen sein. Räubereien, Spionage, Gewalttaten – all das haben seine Leute begangen. Und wenn nötig, wurde ein unschuldiger Sündenbock vorgeschoben, der dafür einstehen musste. Ein teuflisch schlauer Kerl, dieser ‹Colonel›! Man glaubte, Madame Nadina sei eine seiner Agentinnen gewesen, doch es ließ sich nicht das Geringste nachweisen. Anne, wir sind auf der richtigen Spur! Nadina passt ganz gut in diese Geschichte. Sie sollte diese Verabredung am Zweiundzwanzigsten einhalten. Aber warum ist sie denn nicht an Bord gekommen?»