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Mein nächster Besucher war Mr Flemming, Papas Anwalt. Er kam extra von London, um mit mir zu sprechen. Da er selbst ein großer Anthropologe war, bewunderte er Papas Werke sehr. Er nahm meine Hände und tätschelte sie liebevoll.

«Mein armes Kind», sagte er, «mein armes, armes Kind!»

Ohne heucheln zu wollen, fand ich mich in die Rolle der armen, bedauernswerten Waise gedrängt. Es war wie eine Hypnose. Er behandelte mich väterlich freundlich und schien mich für ein dummes kleines Ding zu halten, das schutzlos der bösen Welt gegenübersteht. Es war völlig zwecklos, ihn eines Besseren belehren zu wollen. Und wie sich die Dinge entwickelten, war es vielleicht ganz gut so.

«Mein liebes Kind, können Sie mir wohl folgen, wenn ich versuche, Ihnen einiges klarzumachen?»

«O ja, sicher.»

«Sie wissen, dass Ihr Vater ein großer Mann war. Erst die Nachwelt wird ihn richtig schätzen. Aber er war leider kein guter Geschäftsmann.»

Das wusste ich auch ohne Mr Flemming, aber ich sagte nichts. Er fuhr fort: «Sie werden wahrscheinlich nicht viel davon verstehen, aber ich will versuchen, mich so klar wie möglich auszudrücken.»

Seine klare Darstellung der Lage zog sich sehr in die Länge. Das Ergebnis war, dass ich das Leben mit einem Vermögen von 87 Pfund und 17 Shilling zu meistern hatte. Der Betrag schien nicht gerade überwältigend. Ich wartete mit einiger Spannung auf das, was nun kommen musste. Sicherlich hatte Mr Flemming eine Tante irgendwo in Schottland, die dringend eine junge Gesellschafterin benötigte. Doch das war ein Irrtum.

«Und nun lassen Sie uns über Ihre Zukunft reden. Soviel ich weiß, besitzen Sie keine näheren Verwandten.»

«Ich habe niemanden auf der ganzen Welt», seufzte ich und fühlte mich als wahre Filmheldin.

«Haben Sie Freunde hier?»

«Jedermann war sehr nett zu mir», antwortete ich.

«Wer sollte nicht nett sein zu einem so reizenden Kind», sagte er galant. «Nun gut, meine Liebe, wir müssen sehen, was da zu tun ist.» Er zögerte, ehe er fortfuhr: «Wie wäre es, wenn Sie vorläufig zu uns kämen?»

London! Genau das, was ich mir gewünscht hatte!

«Das ist wirklich zu liebenswürdig von Ihnen!», rief ich rasch. «Darf ich tatsächlich kommen? Nur so lange natürlich, bis ich eine Beschäftigung gefunden habe. Ich muss so bald wie möglich etwas verdienen.»

«Sie haben ganz Recht, und wir wollen sehen, ob sich etwas Passendes findet.»

Ich fühlte instinktiv, dass die Ansichten von Mr Flemming über «etwas Passendes» nicht mit den meinen übereinstimmen würden. Aber jetzt war nicht der Moment, darüber zu sprechen.

«Das hätten wir also. Wie wäre es, wenn Sie gleich mit mir zurückkehrten?»

«Oh, danke sehr. Aber wird Mrs Flemming nicht…»

«Meine Frau wird glücklich sein, Sie bei sich zu haben.»

Ich fragte mich, ob alle Ehemänner ihre Frauen so schlecht kannten. Wenn ich verheiratet wäre, ließe ich es jedenfalls nicht ohne Widerstand zu, dass mein Mann mir mittellose Waisen ins Haus schleppte.

«Wir werden meiner Frau ein Telegramm schicken», fuhr der Anwalt fort.

Meine wenigen Habseligkeiten waren rasch gepackt. Wenn mir auch vor der Begegnung mit Mrs Flemming etwas bange war, so hoffte ich doch, dass meine Aufmachung als ärmliche Waise ihre Gefühle besänftigen würde. Übrigens merkte ich bei unserer Ankunft in London sofort, dass auch Mr Flemming etwas nervös war. Seine Frau begrüßte mich sehr liebenswürdig. Sie führte mich in ein hübsches Gästezimmer, hoffte, dass ich alles Notwendige vorfinden würde, und sagte, das Abendessen werde in einer Viertelstunde bereit sein. Dann überließ sie mich meinen eigenen Gedanken. Doch ehe sie das Wohnzimmer im unteren Stockwerk betrat, hörte ich sie mit etwas erhöhter Stimme fragen: «Aber Henry, was hast du dir nur gedacht…?» Der Abend verlief jedoch ganz friedlich, und wir waren am Ende alle der Meinung, dass ich mich sofort nach einer Beschäftigung umsehen sollte.

Vor dem Zubettgehen betrachtete ich mein Gesicht eingehend im Spiegel. War ich eigentlich hübsch?

3

Die nächsten Wochen waren sehr langweilig. Meine Pläne machten keine Fortschritte. Unser Haus und die ganze Einrichtung waren verkauft worden, und der Ertrag hatte gerade gereicht, um die Schulden zu begleichen. Eine Stellung konnte ich nicht finden – ich gab mir allerdings auch keine besondere Mühe. Immer noch war ich fest davon überzeugt, dass ich mich nur umzuschauen brauchte, um einem Abenteuer zu begegnen. Nach meiner Ansicht kommt einem meist das entgegen, was man sich wünscht. Und bald zeigte es sich, dass diese Ansicht richtig war. Es geschah an einem kalten Januartag – am 8. Januar, um genau zu sein. Ich kehrte von einer erfolglosen Besprechung mit einer Dame zurück, die eine Sekretärin/Gesellschafterin gesucht hatte, und schlenderte zum Hyde Park Corner, wo ich in die U-Bahn einstieg. Ich ging bis zum Ende des Bahnsteigs, weil ich neugierig war, ob man tatsächlich auf dieser Strecke zwischen zwei Tunnels ein Stück Tageslicht erblicken konnte. Und es stimmte wirklich. Nur wenige Menschen standen auf dem Bahnsteig. Am Beginn des Tunnels befand sich außer mir nur noch ein Mann. Ich schnupperte misstrauisch, als ich an ihm vorbeiging. Wenn es einen Geruch gibt, den ich nicht ausstehen kann, so ist es der von Mottenkugeln. Und der schwere Mantel dieses Mannes war buchstäblich getränkt davon. Das schien mir merkwürdig, denn im Allgemeinen holt man die Wintermäntel lange vor dem Januar hervor, und zu dieser Zeit sollte ihnen kein Geruch mehr anhaften. Der Mann war völlig in Gedanken versunken, so dass ich ihn ganz offen betrachten konnte. Er war klein und mager, mit dunkel gebräuntem Gesicht und einem schwarzen Bärtchen.

Eben aus den Tropen gekommen, schloss ich. Deshalb riecht sein Mantel so stark. Vielleicht aus Indien? Ein Offizier ist er nicht, sonst würde er keinen Bart tragen. Eher ein Teepflanzer.

In diesem Moment wandte sich der Mann um, als ob er den Bahnsteig verlassen wollte. Er blickte mich flüchtig an, doch als seine Augen weiterwanderten, bekam sein Gesicht plötzlich einen Ausdruck der Panik. Entsetzt taumelte er einen Schritt zurück, als ob er sich aus einer Gefahr retten wollte. Doch dabei vergaß er, dass er dicht an der Bahnsteigkante stand. Er strauchelte und fiel rücklings auf die Schienen hinab. Aus den Schienen stoben elektrische Funken. Ich stieß einen schrillen Schrei aus. Fahrgäste rannten herbei, aus dem Nichts tauchten zwei Bahnbeamte auf.

Ich blieb stehen, wo ich war, wie festgenagelt durch den Schreck. Ein Teil von mir schien entsetzt über den plötzlichen Unglücksfall, während der andere Teil kühl und unbeteiligt zusah, wie man den Mann von den elektrisch geladenen Schienen hob und wieder auf den Bahnsteig schaffte.

«Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt», ertönte eine Stimme. Ein großer, schlanker Mann mit braunem Bärtchen drängte sich an mir vorbei und beugte sich über den leblosen Körper. Während er ihn untersuchte, beschlich mich ein Gefühl der Unwirklichkeit. Das war nicht echt, konnte einfach nicht echt sein! Schließlich stand der Doktor auf und schüttelte den Kopf. «Mausetot – nichts mehr zu machen.»

«Bitte zurücktreten», sagte einer der Beamten. «Es hat keinen Zweck, sich hier herumzudrängen.»

Ein plötzlicher Brechreiz befiel mich, ich wandte mich um und lief blindlings die Treppe hinauf zum Lift. Luft! Ich brauchte frische Luft, das alles war zu grässlich. Vor mir entdeckte ich den Arzt, der den Mann untersucht hatte. Der Lift war eben im Begriff, sich in Bewegung zu setzen, und der Arzt machte ein paar lange Schritte, um ihn noch zu erreichen. Dabei fiel ihm ein kleiner Zettel aus der Tasche.

Ich bückte mich, hob den Zettel auf und rannte hinter dem Arzt her. Aber vor meiner Nase schloss sich die Lifttür, und ich blieb zurück, den Papierfetzen in der Hand haltend. Als ich mit dem zweiten Lift endlich die Straße erreichte, war von dem Mann nichts mehr zu sehen. Der Zettel war eine Seite aus einem Notizblock mit bleistiftgekritzelten Zahlen und Worten. 17. 122 Kilmorden Castle.