Die Sache ist wirklich sehr seltsam. Wohin ist das Mädchen verschwunden? Sie spazierte um zehn Minuten nach elf aus dem Hotel – und wurde seither nicht mehr gesehen. Der Gedanke an Selbstmord scheint ausgeschlossen. Sie gehört zu den unternehmungslustigen jungen Frauen, die das Leben lieben und nicht daran denken, es wegzuwerfen. Sie konnte auch nicht auf und davon gehen, weil vor morgen Mittag kein Zug fährt. Wo zum Teufel ist sie geblieben?
Race ist völlig außer sich, der arme Kerl. Jeden Stein hat er umgedreht. Jeden Menschen im ganzen Distrikt hat er aufgeboten. Die eingeborenen Spürhunde kriechen auf allen Vieren herum. Und trotzdem: nicht das geringste Anzeichen von Anne Beddingfeld. Man neigt zu der Vermutung, dass sie geschlafwandelt hat. Gewisse Anzeichen auf dem Pfad bei der Brücke deuten darauf hin, dass sie dort über den Rand gefallen sein könnte. Wenn das stimmt, besteht keine Hoffnung mehr. Leider sind bereits alle Fußabdrücke durch die Gesellschaft, die heute in aller Herrgottsfrühe dort herumgetrampelt ist, verwischt worden.
Ich halte das für keine sehr befriedigende Theorie. Man spricht doch immer davon, dass Schlafwandler einen sechsten Sinn besitzen, der sie vor allem Ungemach schützt. Auch Mrs Blair scheint nicht recht befriedigt davon.
Diese Frau ist mir unverständlich. Ihr ganzes Verhalten Race gegenüber hat sich gewandelt. Sie beobachtet ihn wie die Katze ihre Maus und muss sich offensichtlich anstrengen, wenigstens höflich zu ihm zu sein. Dabei waren sie bisher die engsten Freunde. Sie ist überhaupt nicht mehr sie selbst, ist nervös, hysterisch geworden, fährt beim leisesten Laut in die Höhe.
Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass ich nach Johannesburg abreise.
Gestern tauchte ein Gerücht auf über eine geheimnisvolle Insel mitten im Strom, die von einem Mann und einem jungen Mädchen bewohnt sein soll. Race wurde ganz aufgeregt. Die Sache erwies sich jedoch als harmlos, denn der Mann auf der Insel lebt seit Jahren dort und ist in dem Hotel gut bekannt. Er fährt Gesellschaften auf seinem Boot herum und zeigt ihnen, wo es Krokodile und dergleichen gibt. Wahrscheinlich hat er eines darauf abgerichtet, dass es von Zeit zu Zeit Stücke aus dem Boot beißt. Dann wird er es mit dem Haken verjagen, und die ganze Gesellschaft ist selig, weil sie ein echtes, gefräßiges Krokodil gesehen hat. Ich weiß, wie solche Dinge gedreht werden. Man hat nicht herausgefunden, wie lange das Mädchen schon bei ihm lebt; aber es scheint ziemlich sicher, dass es sich nicht um Anne handelt. Auch darf man sich nicht so einfach in das Privatleben des jungen Mannes einmischen. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich mir das hübsch verbitten und Race mit Fausthieben von der Insel jagen. Liebesgeschichten gehen uns nichts an.
Später
Es ist beschlossen, dass ich morgen nach Johannesburg fahre. Race hat mich ebenfalls dazu gedrängt. Hoffentlich werde ich nicht von einem Streikenden niedergeschossen. Mrs Blair hatte vor, mich zu begleiten, aber jetzt hat sie plötzlich ihre Absicht geändert und will hier bleiben. Es sieht fast so aus, als ob sie Race nicht aus den Augen lassen will. Heute Abend erschien sie bei mir und bat mich zögernd, ihr einen Gefallen zu erweisen. Ob ich wohl ein paar ihrer kleinen Andenken mitnehmen würde?
«Doch nicht etwa die Holztiere?», fragte ich erschrocken. Komischerweise hatte ich schon lange das Empfinden, dieses Viehzeug würde mich noch einmal in Verlegenheit bringen.
Schließlich einigten wir uns auf einen Kompromiss. Ich erklärte mich bereit, zwei kleinere Holzkisten mit zerbrechlichen Artikeln für sie in Verwahrung zu nehmen, während die Tiere in große Kisten gepackt und mit der Post nach Kapstadt gesandt werden sollen, wo Pagett für ihre weitere Unterbringung Sorge tragen kann.
Pagett zerrt wie wild an seiner Leine; er möchte unbedingt nach Johannesburg fahren und mich dort treffen. Mrs Blairs Kisten geben einen guten Vorwand ab, ihn in Kapstadt zurückzuhalten. Ich habe ihm bereits geschrieben, dass er vorläufig dort bleiben muss, um sie in Empfang zu nehmen und in sichere Verwahrung zu bringen, da sie von unermesslichem Wert seien.
Alles ist also gut vorbereitet, und ich werde mit Miss Pettigrew zusammen ins Blaue hinausfahren. Wer Miss Pettigrew einmal gesehen hat, kann nicht an der völligen Harmlosigkeit dieser Fahrt zweifeln!
29
Johannesburg, den 6. März
Ich habe unendlich viele Ausreden erfunden, um Pagett in Kapstadt zurückzuhalten. Schließlich ist meine Einbildungskraft versiegt. Morgen kommt er her, um wie ein treuer Hund an der Seite seines Herrn zu sterben. Und dabei bin ich während seiner Abwesenheit mit meinen Erinnerungen eines Politikers so schön vorwärts gekommen.
Heute Morgen interviewte mich ein hoher Regierungsbeamter. Er zeigte sich zugleich höflich, überredend und geheimnisvoll. Bereits zu Beginn sprach er von meiner exponierten Stellung und meiner Wichtigkeit, um zu betonen, dass es besser für mich wäre, so schnell wie möglich nach Pretoria abzureisen. Er würde mir gern dabei behilflich sein.
«Sie erwarten also hier größere Schwierigkeiten?», fragte ich.
Seine Antwort war so gewunden, dass sich nichts daraus entnehmen ließ. Und das bestärkte mich in meiner Annahme. Ich bemerkte höflich, dass seine Regierung dem Streik leider zu lange zugesehen habe, ohne einzugreifen.
«Es sind ja gar nicht die Streikenden allein», verteidigte er sich. «Hinter ihnen ist eine ganze Organisation am Werk. Plötzlich sind Waffen und Munition in Mengen vorhanden. Wir sind in den Besitz von Dokumenten gelangt, die Licht auf die Methoden werfen, wie sie ins Land kommen konnten. Ein regelrechter Kode wurde verwendet: Kartoffeln bedeutet Sprengstoffe, Kohl Gewehre, und so geht es weiter, alle Waffen sind mit dem Namen eines Gemüses bezeichnet.»
«Das ist höchst interessant», erwiderte ich.
«Mehr als das, Sir Eustace, weit mehr als das! Wir haben sogar Grund zu der Annahme, dass der Mann, der diese ganzen Unruhen angestiftet hat – der Spiritus Rector sozusagen –, zurzeit in Johannesburg weilt.»
Er starrte mich so lange an, dass ich beinahe den Eindruck gewann, er halte mich für diesen Staatsverbrecher. Kalter Schweiß brach mir bei dem Gedanken aus, und ich begann meine Neugier zu verwünschen, die mich in diesem dramatischen Augenblick nach Johannesburg geführt hatte.
Doch dann fuhr er fort: «Momentan verkehren keine Züge zwischen Johannesburg und Pretoria, aber ich könnte Ihnen einen Privatwagen zur Verfügung stellen. Und für den Fall, dass man Sie unterwegs anhalten sollte, würde ich Ihnen zwei Pässe ausstellen, den einen von der Regierung der Südafrikanischen Union, den anderen mit einer offiziellen Bestätigung, dass Sie ein englischer Tourist sind, der mit der Union nicht das Geringste zu schaffen hat.»
«Mit anderen Worten, einen für Ihre Regierungsleute, den anderen für die Streikenden?»
«Genau so, Sir Eustace.»
Der Vorschlag sagte mir gar nicht zu – ich weiß, was in solchen Fällen nur allzuleicht geschieht. Im kritischen Moment wird man verwirrt und bringt alles durcheinander. Ich würde bestimmt den falschen Pass den falschen Leuten aushändigen und schließlich entweder von einem blutdürstigen Rebellen oder von einem Vertreter des Rechts kurzerhand erschossen werden. Außerdem, was soll ich in Pretoria? Die Regierungsgebäude bewundern und das Echo der Zeitungen über die Schießereien in Johannesburg studieren? Gott weiß, wie lange ich dort eingepfercht wäre. Die Eisenbahnschienen sind bereits in die Luft gesprengt, wie ich gehört habe. Und über die Stadt selbst ist seit zwei Tagen der Ausnahmezustand verhängt worden.
«Aber, mein lieber Freund», wandte ich ein, «Sie sind sich nicht klar darüber, dass ich eigens hierher gekommen bin, um die politischen Verhältnisse zu studieren. Wie zum Teufel kann ich die Sache von Pretoria aus verfolgen? Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfsbereitschaft, aber Sie brauchen sich wirklich nicht um mich zu sorgen.»