«Ich muss Sie warnen, Sir Eustace, die Lebensmittel werden knapp.»
«Etwas fasten wird meiner Figur gut tun.»
Wir wurden durch einen Boten unterbrochen, der mir ein Telegramm aushändigte. Ich las mit Verblüffung: «Anne bei mir in Kimberley – Suzanne Blair.»
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich nie ernstlich daran geglaubt hatte, Anne Beddingfeld sei umgekommen. Das Mädchen ist ein Stehaufmännchen, sie hat ein ganz besonderes Geschick, lächelnd wiederaufzutauchen, als ob nichts geschehen wäre. Ich verstehe immer noch nicht, weshalb sie mitten in der Nacht das Hotel verließ und wie sie überhaupt nach Kimberley gelangte. Jedenfalls fuhr zu dieser Zeit kein Zug. Sie muss ein Paar Engelsflügel besessen haben. Und wie ich sie kenne, wird sie nicht daran denken, die Sache aufzuklären – wenigstens mir gegenüber nicht. Gegen mich hüllt sich alles in Schweigen, ich bin immer nur aufs Raten angewiesen. Und das wird auf die Dauer langweilig.
Nun gut, sie ist also wiederaufgetaucht. Ich faltete das Telegramm zusammen und konnte schließlich auch den Regierungsbeamten loswerden. Es sagt mir nicht besonders zu, hungern zu müssen, aber um meine persönliche Sicherheit bin ich nicht besorgt. General Smuts wird mit diesem Revolutiönchen schon fertig werden. Doch ich würde viel darum geben, jetzt eine Flasche Whisky zu bekommen! Hoffentlich ist Pagett gescheit genug, morgen eine mitzubringen.
Ich setzte meinen Hut auf und ging aus, um ein paar kleine Andenken zu kaufen. Die Antiquitätengeschäfte in Johannesburg führen recht originelle Sachen. Ich blieb an einem Schaufenster stehen und betrachtete die Auslage, als ein Mann herauskam. Zu meiner Überraschung erkannte ich in ihm Race.
Ich kann nicht behaupten, dass er glücklich schien, mich zu sehen. Er machte im Gegenteil ein recht verstörtes Gesicht, aber ich bestand darauf, dass er mich zum Hotel zurückbegleitete. Es ist etwas eintönig, wenn man immer nur Miss Pettigrew zur Unterhaltung hat.
«Ich hatte keine Ahnung, dass Sie in Johannesburg sind», sagte ich. «Wann sind Sie eingetroffen?»
«Gestern Abend.»
«Und wo wohnen Sie?»
«Bei Freunden.»
Er spielte wieder einmal den großen Schweiger, und meine Frage schien ihn in Verlegenheit zu bringen.
Als wir im Hotel waren, sagte ich: «Sie werden wohl bereits gehört haben, dass Miss Beddingfeld wiederaufgetaucht und höchst lebendig ist?»
Er nickte.
«Sie hat uns allen einen tüchtigen Schrecken eingejagt», fuhr ich fort. «Wohin zum Teufel ist sie eigentlich in jener Nacht verschwunden?»
«Sie war die ganze Zeit auf der Insel versteckt.»
«Auf welcher Insel? Doch nicht etwa bei diesem jungen Mann?»
«Doch.»
«Das gehört sich einfach nicht! Mein guter Pagett wird sehr schockiert sein. Weiß man, wer dieser Bursche ist?»
«Ich vermute, es handelt sich dabei um einen jungen Mann, den wir alle sehr gern in die Finger bekämen.»
«Meinen Sie etwa…?», rief ich in steigender Erregung.
Er nickte.
«Harry Rayburn alias Harry Lucas, wie er wirklich heißt. Einmal ist er uns durch die Lappen gegangen, aber diesmal soll er uns nicht entkommen.»
«Du liebe Zeit!», murmelte ich.
«Es ist nicht anzunehmen, dass das Mädchen seine Komplizin ist. Bei ihr handelt es sich höchstwahrscheinlich nur um eine Liebesgeschichte.»
Ich war immer der Meinung gewesen, Race sei selbst in das Mädchen verliebt. Die Art, wie er die letzten Worte sagte, bestärkte mich darin.
«Sie ist nach Beira gefahren», fuhr er hastig fort.
«Tatsächlich?» Ich blickte ihn erstaunt an. «Woher wissen Sie das?»
«Sie schrieb mir ein paar Zeilen von Bulawajo aus, in denen sie mir mitteilte, sie fahre direkt nach England zurück. Das Beste, was sie tun kann, die Arme.»
«Ich glaube nicht recht daran, dass sie in Beira ist», erwiderte ich nachdenklich.
«Als sie mir schrieb, befand sie sich auf dem Weg dorthin.»
Ich war sehr verblüfft. Irgendetwas lag in der Luft. Ohne zu überlegen, dass Anne wahrscheinlich einen guten Grund für ihre Täuschungsmanöver besaß, zog ich das Telegramm aus der Tasche und reichte es Race.
«Wie erklären Sie sich dann das?», fragte ich.
«Beide Damen in Kimberley», sagte Race kopfschüttelnd. «Was tun sie dort?»
«Ja, das frage ich mich auch. Ich hätte eher angenommen, dass Miss Anne schleunigst hierher nach Johannesburg käme, um aus erster Hand Berichte über die Revolte ans Daily Budget zu liefern.»
«Kimberley!», wiederholte er. «Dort gibt es überhaupt nichts zu sehen – in den Minen wird nicht gearbeitet.»
Er ging noch immer kopfschüttelnd davon. Ich hatte ihm anscheinend etwas zum Nachdenken aufgegeben.
Kaum war er fort, erschien mein Regierungsbeamter wieder auf dem Plan.
«Verzeihen Sie, wenn ich Sie nochmals störe, Sir Eustace», entschuldigte er sich. «Aber ich muss Ihnen leider noch eine kleine Frage stellen.»
«Fragen Sie, fragen Sie ruhig, mein Freund», sagte ich herzlich.
«Es betrifft Ihre Sekretärin…»
«Miss Pettigrew?», rief ich erstaunt.
«Jawohl, Sir Eustace. Man hat sie gesehen, als sie aus Agrasatos Antiquitätengeschäft kam und…»
«Du lieber Himmel», unterbrach ich ihn, «ich selbst wollte heute Nachmittag ebenfalls bei Agrasato einkaufen. Sie hätten also auch mich dort entdecken können.»
Anscheinend kann man in Johannesburg nicht den harmlosesten Schritt tun, ohne bespitzelt zu werden.
«Sie ist aber mehr als einmal dort gesehen worden, und zwar unter recht eigenartigen Umständen. Ich möchte Ihnen im Vertrauen sagen, Sir Eustace, dass gerade dieses Geschäft im Verdacht steht, ein geheimer Treffpunkt der Organisation zu sein, die hinter der Rebellion steckt. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie mir genauere Auskünfte über Ihre Sekretärin geben könnten. Auf welche Weise ist sie in Ihre Dienste gekommen?»
«Sie wurde mir durch Ihre eigene Regierung in Kapstadt empfohlen», sagte ich kalt.
Er fiel beinahe in Ohnmacht.
30
Annes Bericht
Sobald ich in Kimberley eintraf sandte ich Suzanne ein Telegramm. Sie folgte mir mit dem nächsten Zug und meldete mir ihre Ankunft telegrafisch. Ihre Eile verriet mir, dass sie mich wirklich ins Herz geschlossen hatte. Das überraschte und rührte mich sehr, denn ich war immer der Meinung gewesen, ich bedeute bloß eine kurzweilige Sensation für sie. Aber bei ihrer Ankunft fiel sie mir um den Hals und brach in Tränen aus.
Als wir uns etwas beruhigt hatten, erzählte ich ihr die ganze Geschichte haarklein von A bis Z.
«Du hast Colonel Race stets im Verdacht gehabt», sagte sie nachdenklich, als ich geendet hatte. «Ich war anderer Ansicht – bis zu dem Abend, als du verschwunden bist. Ich habe so viel von ihm gehalten und dachte, er wäre ein guter Ehemann für dich. O Anne, sei mir nicht böse, aber woher willst du wissen, dass dein junger Freund die volle Wahrheit sagt? Du scheinst an jedes Wort von ihm wie an das Evangelium zu glauben.»
«Selbstverständlich tue ich das!», rief ich voller Empörung.
Suzanne zuckte mit den Schultern. Dann sagte sie: «Ich muss dir ebenfalls einiges erzählen, Anne. Siehst du, als auch ich Colonel Race verdächtigte, wurde ich sehr unruhig wegen der Diamanten. Ich wusste nicht, wie ich die Steine loswerden sollte. Ich wagte nicht, sie länger bei mir zu behalten…»
Suzanne blickte sich ängstlich um, als ob sie einen Lauscher befürchtete, und dann flüsterte sie mir etwas ins Ohr.
«Ein ausgezeichneter Gedanke», stimmte ich ihr zu. «Was hat Sir Eustace mit den Kisten gemacht?»