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Auf den ersten Blick schien das keine Bedeutung zu haben. Und trotzdem zögerte ich, den Zettel wegzuwerfen. Ich blieb stehen, in seine Betrachtung versunken, und rümpfte unwillig die Nase. Wieder Mottenkugeln! Langsam hob ich das Papier hoch. Tatsächlich, es roch durchdringend danach.

Ich faltete den Zettel sorgsam und steckte ihn in meine Tasche. Langsam und gedankenvoll begab ich mich auf den Heimweg.

Mrs Flemming sagte ich, dass ich Zeugin eines hässlichen Unfalls gewesen sei und mich gar nicht wohl fühle. Ich würde daher gern in mein Zimmer gehen und mich hinlegen. Die freundliche Dame beharrte darauf, ich müsse eine Tasse Tee trinken. Dann überließ sie mich meinen Überlegungen, und ich hatte Zeit, den Plan auszuarbeiten, den ich bereits auf dem Heimweg gefasst hatte. Zunächst einmal musste ich wissen, woher das merkwürdige Gefühl des Unwirklichen kam, das mich während der Untersuchung des Arztes plötzlich ergriffen hatte. Ich legte mich flach auf den Boden und versuchte die Stellung der Leiche nachzuahmen. Dann musste ein Kissen meinen Platz einnehmen, während ich selbst jede Bewegung des Arztes wiederholte. Ja, nun wurde mir alles klar! Ich kauerte auf dem Boden und starrte die gegenüberliegende Wand an…

In den Abendzeitungen stand eine kurze Notiz, dass ein Unbekannter an der U-Bahn-Station Hyde Park Corner ums Leben gekommen sei. Man fragte sich allerdings noch, ob es sich um einen Unglücksfall oder um Selbstmord handelte. Diese Bemerkung schien mir meine Aufgabe klarzumachen, und als Mr Flemming meine Erzählung hörte, stimmte er mir sofort zu.

«Zweifellos wird man Ihre Aussage bei der Leichenschau verlangen. Sind Sie sicher, dass außer Ihnen kein Mensch nahe genug war, um alles zu sehen?»

«Ich hatte das Gefühl, dass jemand hinter mir herkam, aber ich bin dessen nicht sicher.»

Die Leichenschau wurde abgehalten. Mr Flemming begleitete mich. Er schien zu glauben, dass das alles ganz schrecklich für mich war und dass ich an ihm eine Stütze benötigte.

Der Tote war als ein Mr L. B. Carton identifiziert worden. In seinen Taschen hatte man nichts gefunden als die Bewilligung eines Grundstückmaklers, ein Haus am Fluss in der Nähe von Marlow zu besichtigen. Die Genehmigung war ausgestellt auf den Namen L. B. Carton, Hotel Russell. Ein Angestellter des Hotels bestätigte, dass der Mann am Vortage eingetroffen sei und ein Zimmer unter diesem Namen bezogen habe. Laut Eintragung im Gästeregister sei er aus Kimberley, Südafrika, gekommen, anscheinend direkt vom Dampfer.

Ich war die einzige Person, die das Geschehnis beobachtet hatte. «Halten Sie es für einen Unglücksfall?», fragte mich der Coroner.

«Ich bin überzeugt, dass es kein Selbstmord war. Irgendetwas hat den Mann erschreckt. Er fuhr blindlings zurück, ohne daran zu denken, wo er stand.»

«Was kann ihn erschreckt haben?»

«Das weiß ich nicht. Aber er muss etwas gesehen haben, denn er schien von wahrer Panik ergriffen.»

Einer der Geschworenen meinte, viele Menschen hätten vor Katzen Angst. Vielleicht sah er eine Katze? Mir kam dieser Hinweis recht kläglich vor, aber er fand Anerkennung vor dem Gericht, weil die Leute offensichtlich keine Lust zu einer näheren Untersuchung hatten. Der Spruch der Geschworenen lautete einstimmig, es handle sich um einen Unglücksfall und nicht um Selbstmord.

«Merkwürdig erscheint es mir», sagte der Coroner, «dass der Arzt, der den Mann am Unfallort untersuchte, sich nicht gemeldet hat. Man hätte natürlich sofort seinen Namen und seine Adresse verlangen sollen. Das war eine grobe Unterlassung.»

Ich lächelte innerlich, denn ich hatte eine eigene Theorie über diesen Arzt. Diese Theorie gedachte ich so bald wie möglich Scotland Yard mitzuteilen.

Doch der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Die Flemmings waren Leser des Daily Budget, und das Daily Budget hatte seinen großen Tag.

Merkwürdige Folge des Unfalls an der U-Bahn

Frau in einem einsamen Haus erdrosselt

Begierig verschlang ich den Artikel.

«Eine Aufsehen erregende Entdeckung wurde gestern im Haus zur Mühle bei Marlow gemacht. Der Besitz gehört Sir Eustace Pedler und wird unmöbliert vermietet. Eine Genehmigung zur Besichtigung des Hauses fand sich in der Tasche des Mannes, der an der U-Bahn-Station Hyde Park Corner ums Leben kam. Zunächst wurde angenommen, der Mann – ein Mr L. B. Carton aus Kimberley – habe Selbstmord begangen, indem er sich auf die Schienen warf. Gestern wurde in dem Haus zur Mühle die Leiche einer bildschönen jungen Frau gefunden, die allen Anzeichen nach erdrosselt wurde. Bisher konnte die Frau nicht identifiziert werden, man glaubt jedoch, dass sie eine Ausländerin ist. Die Polizei verfolgt eine Spur. Sir Eustace Pedler, der Eigentümer des Hauses, hält sich während der Wintermonate an der Riviera auf.»

4

Es fand sich niemand, der die Frau identifizieren konnte. Die Leichenschau brachte folgende Tatsachen ans Licht: Kurz nach 13 Uhr am 8. Januar erschien eine elegante Dame mit fremdländischem Akzent bei den Häusermaklern Butler & Park in Knightsbridge. Sie erklärte, dass sie ein Haus an der Themse mieten oder kaufen möchte, das in erreichbarer Nähe von London liege. Die Makler machten verschiedene Vorschläge, darunter auch das Haus zur Mühle. Die Dame nannte sich Mrs de Castina und gab als Adresse das Hotel Ritz an. Dort war jedoch dieser Name unbekannt; der zur Leichenschau berufene Empfangschef hatte die Dame nie gesehen.

Mrs James, die Frau des Gärtners im Haus zur Mühle, wurde als Zeugin aufgerufen. Sie wohnte in einem kleinen Häuschen beim Parkeingang und verwaltete den Besitz während der Abwesenheit von Sir Eustace Pedler. Am 8. Januar erschien ungefähr um 15 Uhr eine Dame, um das Haus zu besichtigen. Sie wies die Genehmigung der Makler vor, woraufhin ihr Mrs James wie üblich die Schlüssel aushändigte. Sie pflegte die Interessenten nicht zu begleiten, denn das Haus stand ziemlich entfernt von der Pförtnerwohnung. Ein paar Minuten später betrat ein junger Mann das Grundstück. Mrs James beschrieb ihn als groß und breitschultrig, mit einem tiefgebräunten Gesicht und hellen grauen Augen. Er war glattrasiert und trug einen braunen Anzug. Er behauptete, ein Freund der jungen Dame zu sein, die soeben das Haus besichtige; er habe nur noch rasch bei der Post ein Telegramm aufgegeben. Mrs James wies ihm den Weg zum Haus und dachte nicht weiter über die Angelegenheit nach.

Fünf Minuten später kehrte der junge Mann zurück und händigte ihr die Schlüssel aus mit der Bemerkung, das Haus entspreche leider nicht ihren Wünschen. Da Mrs James die Dame nicht sah, nahm sie an, dass sie bereits vorausgegangen sei. Allerdings fiel ihr auf, dass der junge Mann sehr erregt war. «Er sah aus wie ein Mensch, der einen Geist gesehen hat. Ich glaubte, er sei plötzlich krank geworden.» Am nächsten Tag wollte eine andere Dame mit ihrem Gatten das Haus besichtigen, und die beiden fanden die Leiche in einem Zimmer des oberen Stockwerks. Mrs James erkannte die Tote als die Dame, die am Tag zuvor gekommen war. Auch die Häusermakler identifizierten sie als Mrs de Castina. Nach Meinung des Polizeiarztes war die Frau seit ungefähr vierundzwanzig Stunden tot.

Das Daily Budget zog den Schluss, der Mann aus der U-Bahn-Station habe die Frau erdrosselt und danach Selbstmord begangen. Da jedoch das Opfer des Bahnunfalls um 14 Uhr starb, während die Frau um 15 Uhr noch lebte, gab es nur eine logische Folgerung: Die beiden Vorkommnisse hatten nichts miteinander zu tun, und die Genehmigung zur Besichtigung des Hauses in Marlow in der Tasche des Verunglückten war nur einer jener Zufälle, die so oft im Leben vorkommen.

Das Urteil «Vorsätzlicher Mord durch eine oder mehrere unbekannte Personen», erging, und der Polizei wie auch dem Daily Budget blieb die Aufgabe, nach dem «Mann im braunen Anzug», zu forschen. Da Mrs James fest darauf beharrte, kein anderer Mensch habe in der fraglichen Zeit das Haus betreten, war der Schluss nahe liegend, dass er der Mörder der unglücklichen Mrs de Castina sein musste. Sie war mit einem starken Seil erdrosselt worden, und zwar anscheinend so überraschend, dass ihr keine Zeit blieb, einen Schrei auszustoßen. Ihre schwarze Handtasche enthielt eine gut gefüllte Brieftasche, ein feines Spitzentaschentuch und eine Rückfahrkarte erster Klasse nach London. Es gab nichts, das einen Anhaltspunkt geboten hätte.