«Oh», sagte ich errötend, «Sie sind es.»
«Ja. Darf ich mich setzen?»
Seit unserem Ausflug zu Cecil Rhodes’ Grab war dies das erste Mal, dass wir allein waren. Und auch jetzt wieder überkam mich das eigenartige Gefühl von Bewunderung und Angst zugleich, das dieser Mann mir ständig einflößte.
«Was gibt es Neues?», fragte ich.
«General Smuts wird morgen in Johannesburg eintreffen. Bis dahin wird weitergekämpft. Aber ich habe noch eine andere Nachricht für Sie, Anne: Pedler ist entwischt.»
«Was sagen Sie da?»
«Er ist ausgebrochen. Man hatte ihn über Nacht auf einer Farm in Gewahrsam gehalten. Doch heute früh war der Vogel ausgeflogen, obschon das Zimmer im oberen Stockwerk lag.»
Ganz im Geheimen fühlte ich eine leichte Befriedigung. Bis heute ist es mir nicht gelungen, eine gewisse Sympathie für Sir Eustace zu überwinden. Er hatte versucht, mich umzubringen – und dennoch! Er war so amüsant und liebenswürdig. Natürlich verschwieg ich meine Empfindungen, denn Colonel Race musste sicherlich anderer Auffassung sein. Er wünschte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan würde. Wenn ich es mir jedoch richtig überlegte, war Sir Eustaces Entkommen nicht besonders erstaunlich. Rings um Johannesburg musste er Dutzende von Agenten und Spione haben, und was auch Colonel Race darüber denken mochte, ich war beinahe sicher, dass man ihn nie fassen würde.
Unser Gespräch flaute ab. Doch dann erkundigte sich Colonel Race plötzlich nach Harry. Ich vermochte ihm nur zu sagen, dass ich ihn an diesem Morgen noch nicht gesehen hatte. «Sie wissen natürlich, Anne, dass seine völlige Unschuld bereits festgestellt ist? Es wird noch einige Untersuchungen geben, doch die Schuld von Sir Eustace ist erwiesen. Nichts braucht Sie mehr von Harry zu trennen.»
«Ja, ich verstehe», sagte ich dankbar.
«Und es besteht kein Grund mehr für ihn, unter falschem Namen zu leben.»
«Natürlich nicht.»
«Sie kennen seinen richtigen Namen?»
Die Frage überraschte mich.
«Selbstverständlich – Harry Lucas.»
Er gab keine Antwort, doch sein Schweigen verwirrte mich.
«Anne, erinnern Sie sich noch meiner Worte bei unserem Ausflug? Ich sagte Ihnen damals, jetzt wisse ich wenigstens, was ich zu tun hätte.»
«Ich erinnere mich genau.»
«Ich glaube, mein Versprechen gehalten zu haben. Der Mann Ihrer Liebe ist frei von jedem Verdacht.»
Ich senkte den Kopf, beschämt über meinen damaligen Argwohn.
Nachdenklich sprach er weiter: «Als ich ein junger Kerl war, verliebte ich mich in ein Mädchen, das mich betrog. Und dann lebte ich nur noch für meine Arbeit – bis ich Ihnen begegnete, Anne. Aber es war zu spät für mich, Jugend drängt zu Jugend… und mir bleibt immer noch mein Beruf.»
Eine Weile schwiegen wir beide. Dann sah ich ihn an und sagte: «Sie haben noch eine große Zukunft vor sich. Sie werden eine wichtige Persönlichkeit sein, eine hohe Stellung einnehmen.»
«Aber ich werde einsam sein.»
In diesem Moment schlenderte Harry um die Hausecke. Colonel Race erhob sich.
«Guten Morgen – Lucas», sagte er.
Aus einem mir unverständlichen Grund errötete Harry.
«Ja», rief ich fröhlich, «jetzt darfst du wieder deinen eigenen Namen tragen.»
Harry blickte nicht mich, sondern Colonel Race an.
«Sie wissen es also?», sagte er.
«Ich vergesse kein Gesicht. Ich kannte Sie, als Sie ein Junge waren.»
«Was bedeutet das alles?», fragte ich verwirrt.
Die beiden Männer fochten einen wortlosen Kampf aus. Schließlich gab Harry nach.
«Sie haben Recht, Sir. Sagen Sie ihr, wie ich heiße.»
«Anne, das ist nicht Harry Lucas. Harry Lucas fiel im Krieg. Der Mann, der vor Ihnen steht, heißt Harold John Eardsley.»
35
Mit diesen letzten Worten wandte sich Colonel Race um und ließ uns allein.
«Anne, verzeih! Sag, ob du mir verzeihen kannst.» Harry ergriff meine Hand, doch fast mechanisch zog ich sie fort.
«Weshalb hast du mich getäuscht?»
«Ich weiß nicht, ob ich es dir begreiflich machen kann. Ich hatte Angst, Angst vor der Macht des Geldes. Du solltest mich nur um meiner selbst willen lieben, nur den schlichten Harry Rayburn – ohne äußere Vergoldung.»
Ich blickte ihm in die Augen und lachte. «Harry, du Narr! Ich will doch nur dich, dich und nichts anderes.»
Wir kehrten so bald wie möglich nach Kapstadt zurück. Dort erwartete uns Suzanne, und gemeinsam weideten wir die dicke Giraffe aus. Als die Revolte niedergeschlagen war, traf auch Colonel Race in Kapstadt ein. Auf seinen Vorschlag hin zogen wir alle in die große Villa, die Sir Eustace gehört hatte, und richteten uns dort ein.
In dieser Villa schmiedeten wir auch unsere Pläne für die Zukunft. Ich sollte mit Suzanne nach England zurückkehren; in ihrem Haus sollte meine Hochzeit stattfinden. Und die Aussteuer wollten wir in Paris kaufen. Suzanne machte es viel Vergnügen, all dies zu planen, und mir ebenfalls. Und trotzdem schien mir alles irgendwie unwahr, und oft überfiel mich ein Gefühl der Enge, des Erstickens, als ob ich nie wieder frei würde atmen können.
Es war in der letzten Nacht vor unserer Abfahrt. Ich konnte nicht schlafen, fühlte mich elend und wusste nicht, weshalb. Ich fand den Gedanken, Afrika verlassen zu müssen, schrecklich. Würde es jemals wieder so werden wie jetzt – so herrlich und unbeschwert?
Ein gebieterisches Klopfen an die Fensterläden schreckte mich aus meinem Grübeln. Ich sprang auf und öffnete; Harry stand draußen auf der Terrasse.
«Zieh dich rasch an, Anne. Ich muss mit dir sprechen.»
Ich schlüpfte in ein Kleid und rannte in die kühle Nacht hinaus. Harry fasste mich bei der Hand. Sein Gesicht war bleich und entschlossen.
«Anne, erinnerst du dich daran, wie du mir einmal sagtest, eine Frau sei bereit, für den Mann ihrer Liebe alles zu tun?»
«Natürlich», antwortete ich.
Er riss mich heftig an sich.
«Anne, komm mit mir fort – jetzt – heute Nacht! Zurück nach Rhodesien, zurück auf unsere Insel. Ich ertrage all diesen Unsinn nicht mehr, ich will nicht länger auf dich warten.»
Er ging mit Riesenschritten voran. Ich folgte ihm. Er lief so rasch, dass ich ihn kaum einzuholen vermochte.
«Harry», rief ich schließlich, «werden wir denn den ganzen Weg nach Rhodesien zu Fuß gehen müssen?»
Er, drehte sich um und brach in ein helles, glückliches Lachen aus, während er mich in seine Arme schloss.
36
Dies alles geschah vor zwei Jahren, und wir leben immer noch auf unserer Insel. Vor mir liegt ein alter Brief:
Meine liebe Anne Beddingfeld,
ich kann nicht widerstehen, Ihnen zu schreiben, weniger aus Freude am Schreiben als aus dem Bewusstsein des Vergnügens, das ich Ihnen damit bereite. Unser alter Freund Race war doch nicht ganz so klug, wie er dachte, nicht wahr?
Ich setze Sie zu meinem literarischen Nachlassverwalter ein, indem ich Ihnen mein Tagebuch sende. Race kann es nicht interessieren, doch Ihnen machen gewisse Passagen darin sicherlich Spaß. Ich überlasse es Ihnen, welchen Gebrauch Sie davon machen wollen. Ich würde einen Artikel im Daily Budget vorschlagen: Verbrecher, mit denen ich zu tun hatte. Eine einzige Bedingung knüpfe ich daran: Ich möchte die Hauptfigur sein.
Wenn Sie mein Schreiben erhalten, werden Sie bestimmt nicht mehr Anne Beddingfeld, sondern Lady Eardsley heißen und im vornehmsten Viertel von London residieren. Ich möchte Ihnen sagen, dass ich Ihnen nichts nachtrage. Es ist natürlich schwer, in meinem Alter wieder ganz von vorne beginnen zu müssen, aber, unter uns gesagt, ich hatte für einen solchen Fall bereits eine kleine Reserve angelegt.
Sollten Sie einmal unseren komischen Freund Minks treffen, so richten Sie ihm doch bitte aus, ich hätte ihn keineswegs vergessen. Das wird ihm einen hübschen Schreck einjagen.