Mit sicheren, aber staksigen Schritten lief das Raubtier über den glatten Belag des Platzes. Die nicht einziehbaren Krallen klickten und kratzten auf dem Boden. Muller justierte den Strahl auf Nadelstärke, setzte die Waffe gewandt an und zielte zunächst auf den Buckel, dann auf die Hinterläufe. Das Gewehr traf automatisch jedes gewünschte Ziel in einem gewissen Bereich. Aber Muller bediente sich immer der manuellen Ziel- und Schußvorrichtung. Das Gewehr und er hatten unterschiedliche Ziele: Der Waffe ging es nur ums Töten, Muller ums Essen. Und es war einfacher, selbst ein Opfer zu erlegen, als die Waffe davon zu überzeugen, daß ein Schuß durch das zarte, saftige Fleisch des buckligen Rückens ihn um das beste Stück bringen würde. Das Gewehr suchte naturgemäß nach dem einfachsten Ziel, würde den Strahl durch den Buckel ins Rückgrat senden und damit das Tier zur Strecke bringen. Muller hingegen bevorzugte mehr Finesse.
Er wählte eine Stelle etwa fünfzehn Zentimeter vom Buckel entfernt, dort, wo das Rückgrat in den Schädel eintrat. Ein Schuß reichte aus. Das Tier schwankte und brach zusammen. Muller rannte so rasch auf die Beute zu, wie er es wagen konnte. Er überprüfte jedes Aufsetzen der Füße. Rasch trennte er die unwichtigen Teile ab: Extremitäten, Kopf und Innereien. Dann sprühte er eine Siegelmasse über den Brocken rohen Fleisches, den er aus dem Körper geschnitten hatte. Schließlich schnitt er sich noch ein gewichtiges Steak aus der Hinterhand und schnallte sich beide Pakete auf den Rücken. Er drehte sich um und suchte nach dem im Zickzackkurs verlaufenden, einzig sicheren Weg zum Zentrum des Labyrinths. In weniger als einer Stunde konnte er sich wieder in seinem Lager im Herz der Zone A befinden.
Halb hatte er den Platz überquert, als er ein ungewöhnliches Geräusch hörte.
Er hielt inne und sah zurück. Drei kleine Tiere eilten hüpfend auf den Kadaver zu, den er zurückgelassen hatte. Aber es war nicht das Scharren der Aasräuber gewesen, das ihn beunruhigt hatte. Bereitete das Labyrinth eine neue Todesfalle vor? Ein tiefes, grollendes Geräusch, über dem ein heiseres Dröhnen im mittleren Frequenzbereich lag, war zu hören. Und es war zu langgezogen, um mit dem Brüllen eines besonders großen Tieres verwechselt zu werden. Ein Geräusch, das Muller noch nie zuvor gehört hatte.
Nein: ein Geräusch, das er hier noch nie gehört hatte. Irgendwo in seiner Erinnerung klingelte etwas. Muller suchte danach. Das Geräusch kam ihm irgendwie bekannt vor. Dieses doppelte Dröhnen, das immer schwächer wurde, je weiter es in der Ferne verschwand. Was war es nur?
Er versuchte, seine Position festzustellen. Die Geräuschquelle mußte sich irgendwo hinter ihm befinden. Zumindest war es ihm so erschienen. Muller sah in die Richtung und entdeckte nur die dreifache Kaskade der inneren Labyrinthwand, die hoch über der glitzernden Bernsteinschicht aufragte. Und darüber? Dort sah Muller nur den sternenbeleuchteten Himmel mit dem Affen, der Kröte, der Waage.
Jetzt erinnerte sich Muller an das Geräusch.
Ein Schiff. Ein Sternenschiff, das aus dem Warpflug auf Ionenantrieb umgeschaltet hatte, um zur planetaren Landung anzusetzen. Das Donnern der Expelleratoren und das Dröhnen der Bremstriebwerke erfüllten die Stadt. Dieses Geräusch hatte er seit neun Jahren nicht mehr gehört. Also stand ihm Besuch ins Haus. Waren es zufällige Eindringlinge, oder hatte man seine Spur entdeckt? Was wollten sie? Ärger stieg in Muller hoch. Er hatte restlos genug von ihnen und ihrer Welt. Warum wollten sie ihm auch hier keine Ruhe gönnen? Angespannt und breitbeinig stand Muller da. Ein Teil seines Gehirns suchte auch jetzt nach möglichen Gefahren, als er auf den vermutlichen Landeplatz des Schiffes starrte. Er wollte weder mit der Erde noch mit den Erdmenschen etwas zu tun haben. Er stierte finster zu dem trüben Lichtpunkt im Auge der Kröte, in der Stirn des Affen hinauf.
Sie sollten ihn nicht finden, beschloß er.
Sie würden im Labyrinth den Tod finden, und ihre Knochen würden Teil der jahrmillionenalten Ansammlung werden, die auf den äußeren Korridoren verstreut lag.
Und wenn sie den Weg doch finden würden, so wie es ihm gelungen war…
Nun, dann mußten sie versuchen, mit ihm fertigzuwerden. Und dieser Kampf würde ihnen sicher nicht gefallen. Muller lächelte grimmig, rückte die Fleischpakete auf seinem Rücken zurecht und richtete seine ganze Konzentration wieder auf das Labyrinth. Nach kurzer Zeit befand er sich in der Sicherheit von Zone C. Er erreichte sein Lager und verstaute das Fleisch. Dann bereitete er sein Abendessen vor. Schmerz hämmerte in Mullers Schädel. Nach neun Jahren war er nicht mehr allein auf dieser Welt. Sie besudelten seine Einsamkeit. Wieder einmal fühlte Muller sich hintergangen. Er verlangte nichts weiter von der Erde, als in Ruhe gelassen zu werden. Selbst das verweigerte man ihm. Aber sie sollten es teuer bezahlen, wenn sie es wirklich schaffen sollten, ihn im Labyrinth zu erreichen. Wenn.
2
Das Schiff war etwas zu spät aus dem Warpflug gekommen und in den äußeren Atmosphärebereichen von Lemnos in das normale Raum-Zeit-Kontinuum eingetreten. Charles Boardman mißbilligte das. Er verlangte bei allen Tätigkeiten den höchstmöglichen Standard von sich und erwartete von allen anderen das gleiche. Besonders von den Piloten.
Boardman verbarg seinen Mißmut und schaltete den Bildschirm ein. An einer Wand seiner Kabine leuchtete das bunte Bild des unter dem Schiff schwebenden Planeten auf. Kaum eine Wolke bedeckte seine Oberfläche. Boardman hatte klare Sicht durch die Atmosphäre. Im Zentrum einer weiten Ebene erhob sich eine Ansammlung von Furchen, deren Umrisse noch aus einer Höhe von hundert Kilometern scharf ausgeprägt waren. Boardman wandte sich dem jungen Mann an seiner Seite zu und sagte: „Da sind wir, Ned: das Labyrinth von Lemnos. Und Dick Muller mittendrin!“
Ned Rawlins spitzte die Lippen. „So groß? Es muß einen Durchmesser von einigen hundert Kilometern haben!“
„Was Sie dort unten sehen, ist die äußere Wallanlage. Das eigentliche Labyrinth wird von einem konzentrischen Ring aus Erdaufschüttungen umgeben, der fünf Meter hoch ist und dessen äußerer Umfang fast tausend Kilometer beträgt. Doch…“
„Ja, ich weiß“, unterbrach Rawlins erregt. Ohne Übergang war er tiefrot angelaufen… mit der eindringlichen Unschuld, die Boardman so charmant fand und bald einzusetzen gedachte. „Tut mir leid, Charles, ich wollte nicht unhöflich sein.“
„Ist schon in Ordnung. Was wollten Sie denn wissen?“
„Dieser dunkle Punkt dort innerhalb der Außenwälle — ist das die eigentliche Stadt?“
Boardman nickte. „Das ist das innere Labyrinth. Mit einem Durchmesser von zwanzig bis dreißig Kilometern. Und nur Gott allein weiß, wie viele Millionen Jahre es alt ist. Dort werden wir Muller finden.“
„Falls wir hineingelangen.“
„Sobald wir hineingelangt sind.“
„Ja. Natürlich. Richtig, sobald wir hineingelangt sind“, verbesserte sich Rawlins und errötete wieder. Auf seinen Lippen erschien ein rasches, ernstes Lächeln. „Die Möglichkeit, daß wir den Eingang nicht finden, ist von vornherein auszuschließen, nicht wahr?“
„Muller hat ihn gefunden“, sagte Boardman ganz ruhig. „Er lebt heute mittendrin.“
„Aber er war der erste, dem das gelungen ist. Jeder andere, der den Versuch unternommen hat, ist gescheitert. Warum sollten wir also…“
„So viele haben es nun auch wieder nicht versucht“, entgegnete Boardman. „Und die, die sich daran gemacht haben, waren für die auftauchenden Schwierigkeiten nicht genügend ausgerüstet. Uns wird es gelingen, Ned. Wir werden es schaffen. Uns bleibt gar keine andere Wahl. Entspannen Sie sich nun und genießen Sie die Landung.“
Das Schiff flog jetzt den Planeten an. Der Abstieg ging ein wenig zu rasch vor sich, dachte Boardman, während er unter der abrupten Geschwindigkeitsverzögerung litt. Er haßte Sternreisen, und am allermeisten daran haßte er die Landungen. Aber diesen Flug hatte er nicht vermeiden können. Er lehnte sich in seinem Netzschaumsitz zurück und schaltete den Schirm aus. Ned Rawlins saß immer noch aufrecht da, und seine Augen glühten vor Erregung. Wie wunderbar war es doch, jung zu sein, dachte Boardman und wußte nicht, ob er das nun sarkastisch gemeint hatte oder nicht. Sicher, der Junge war gesund und kräftig… und intelligenter, als es manchmal den Anschein hatte. Ein vielversprechender, ein guter Junge, wie man ihn wohl vor ein paar Jahrhunderten beurteilt hätte. Boardman konnte sich nicht erinnern, selbst einmal ein solcher junger Mann gewesen zu sein. In seinen Augen war er immer ein Mann in mittleren Jahren gewesen: berechnend, kalkulierend, ein Mann, der genau wußte, was er wollte. Boardman war jetzt achtzig und hatte damit fast sein halbes Leben hinter sich. Doch nicht einmal in seiner ehrlichsten Selbsteinschätzung hielt er es für möglich, daß sich seit seinem zwanzigsten Geburtstag etwas Bedeutendes in seiner Persönlichkeit verändert hatte. Natürlich hatte er dazugelernt, beherrschte jetzt das Kunstwerk, Menschen zu führen und anzuleiten. Und weiser war er auch geworden. Aber in seinem Charakter hatte es keine grundlegende qualitative Veränderung gegeben. Der junge Ned Rawlins dagegen würde in etwa sechzig Jahren, von jetzt an gerechnet, eine ganz andere Person sein, und kaum etwas von der jugendlichen Unreife und Unerfahrenheit dieses Augenblicks würde überleben. Boardman erwartete, und er war darüber nicht allzu glücklich, daß die anstehende Mission die Feuerprobe sein würde, die die Unschuld des Jungen hinwegfegte.