Выбрать главу

Irgend etwas mußte unternommen werden, dachte Boardman, um Marshalls Leiche zu bergen. Aber nicht jetzt und heute. Später.

3

Die längsten Tage im Leben von Ned Rawlins waren die vor vier Jahren gewesen. Er hatte sie auf der Reise nach Rigel verbracht, um den Leichnam seines Vaters nach Hause zu überführen. Aber diese Tage auf Lemnos waren noch länger. Vor dem Bildschirm zu stehen, tapfere Männer sterben zu sehen, jeden einzelnen Nerv nach stundenlangem Warten nach Erleichterung schreien zu hören…

Aber sie waren im Begriff, die Schlacht gegen das Labyrinth zu gewinnen. Vierzehn Männer waren bislang eingedrungen. Vier hatten schon den Tod gefunden. Walker und Petrocelli hatten in Zone E ein Lager aufgeschlagen. Fünf andere Männer hatten in Zone F eine Basisstation errichtet. Drei andere bewegten sich im Augenblick gerade am Störfeld in Zone G vorbei und würden sie bald erreicht haben. Sie hatten das Schlimmste bereits hinter sich. Auf Grund der Erkundungen der Drohnen war bekannt, daß hinter F die Gefahren deutlich nachließen. Und in den inneren Zonen gab es so gut wie überhaupt keine Fallen mehr. Sobald F und E erfolgreich überwunden waren, sollte es kaum noch Schwierigkeiten bereiten, ins Zentrum vorzustoßen, wo Muller teilnahmslos und abweisend wartete, lauerte.

Rawlins glaubte, das Labyrinth mittlerweile in- und auswendig zu kennen. Mehr als hundert Mal hatte er es indirekt und mittelbar durchquert: zuerst durch die Augen der Drohnen, dann mit den Übertragungen der Menschen. Nachts sah er in seinen Alpträumen die dunklen Gebäude, die gewundenen Mauern und die geisterhaften Türme. Eingeschlossen in seinem Schädel durchwanderte er immer wieder die ganze Strecke durch den Irrgarten und begegnete dabei tausend Male dem Tod. Er und Boardman würden die Nutznießer der hart errungenen Erfahrungen sein, wenn sie an der Reihe waren, das Labyrinth zu betreten.

Und bis dahin war es gar nicht mehr lange.

An einem kühlen Morgen stand er mit Boardman unter dem eisengrauen Himmel direkt am Rand des Labrinths, an dem hochragenden Erdwall, der den äußeren Rand der Stadt umgab. In den wenigen Wochen, die sie hier verbracht hatten, war das Jahr überraschend schnell zu seinem Ende gekommen. Winter herrschte auf Lemnos, so wenig er auch mit dem irdischen gemein hatte. Von insgesamt zwanzig Stunden schien die Sonne nur noch sechs am Tag. Denen folgten zwei Stunden trübes Zwielicht. Die Dämmerung war düster und scheinbar endlos. Die wirbelnden Monde tanzten fortwährend am Himmel und spielten mit den Schatten merkwürdige Spiele.

Mittlerweile war Rawlins geradezu begierig darauf, selbst den Gefahren des Labyrinths gegenüberzutreten. Eine seltsame, angespannte Hohlheit, die seiner schrecklichen Ungeduld und Unruhe entsprang, beherrschte seine Eingeweide. Er hatte lange genug gewartet, hatte nur in Bildschirme gestarrt, während andere Männer, manche kaum älter als er, ins Labyrinth gegangen waren und dabei ihr Leben riskiert hatten. Manchmal schien es ihm so, als habe er sein ganzes Leben lang nur auf das Stichwort gewartet, um diese Bühne zu betreten.

Auf dem Bildschirm beobachteten sie Muller im Zentrum des Irrgartens. Die fliegenden Spionaugen hielten ihn unter ständiger Beobachtung und verzeichneten seine Wege auf der großen Hauptkarte. Sie waren nicht immer gleich. Muller hatte die Zone A seit der Begegnung mit der Drohne nicht verlassen. Aber täglich änderte er seine Position innerhalb des Zentrums, zog von einem Haus zum nächsten, so als fürchte er sich davor, zweimal im gleichen zu schlafen. Boardman hatte dafür Sorge getragen, daß es zu keinem Kontakt mehr mit Muller kam, nachdem er der Drohne begegnet war. Nicht selten hatte Rawlins den Eindruck, Boardman pirsche sich an ein seltenes und empfindliches Tier heran.

Boardman klopfte auf den Bildschirm und sagte: „Heute Nachmittag gehen wir hinein, Ned. Wir werden die Nacht in der Basisstation verbringen. Morgen ziehen Sie weiter, um sich in Zone E Walker und Petrocelli anzuschließen. Übermorgen marschieren Sie allein ins Zentrum und suchen Muller.“

„Warum gehen Sie auch ins Labyrinth, Charles?“

„Um Ihnen zu helfen.“

„Sie könnten auch von hier draußen mit mir in Verbindung bleiben“, sagte Rawlins. „Sie brauchen Ihr Leben nicht aufs Spiel zu setzen.“

Boardman zupfte gedankenverloren an seinem Halsspeck. „Was ich tue, ist ohnehin auf das kleinstmögliche Risiko angelegt.“

„Wie?“

„Falls Sie in Schwierigkeiten geraten“, erklärte Boardman, „dann muß ich rasch zu Ihnen gelangen können, um Ihnen aus der Patsche zu helfen. Und da möchte ich lieber in Zone F bereitstehen, statt im Notfall durch das ganze Labyrinth eilen zu müssen, um Sie zu erreichen. Verstehen Sie, was ich meine? Von F aus kann ich rasch und ohne größere Gefahr zu Ihnen kommen. Aber nicht von hier draußen.“

„In welche Patsche könnte ich denn geraten?“

„Es könnte Probleme mit Mullers Dickköpfigkeit geben. Er hat keinerlei Grund, mit uns zusammenarbeiten zu wollen, und man ist auch früher schon nicht leicht mit ihm fertiggeworden. Ich kann mich noch an die Monate nach seiner Rückkehr von Beta Hydri IV erinnern. Wir hatten keine ruhige Minute mit ihm. Eine besonders ausgeglichene Persönlichkeit war er eigentlich nie, aber nach seinen Erlebnissen bei den Fremden war er wie ein brodelnder Vulkan. Damit wir uns nicht falsch verstehen, Ned, ich drehe ihm daraus keinen Strick. Er hat alles Recht auf seiner Seite, das ganze Universum zu hassen. Aber er hat etwas Unangenehmes an sich. Er verbreitet Unglück. Wer nur in seine Nähe kommt, wird gewissermaßen vom Pech verfolgt. Sie werden alle Hände voll zu tun haben.“

„Warum kommen Sie dann nicht einfach mit mir?“

„Unmöglich“, sagte Boardman. „Unser ganzer Plan wäre im Eimer, wenn er nur wüßte, daß ich mich auf dieser Welt befinde. Vergessen Sie nicht, daß ich es gewesen bin, der ihn zu den Hydriern geschickt und ihn quasi auf Beta Hydri IV ausgesetzt und seinem Schicksal überlassen hat. Ich glaube, er würde mir sofort an die Gurgel springen, wenn er mich noch einmal sehen könnte.“

Rawlins wollte das nicht glauben. „Nein. So barbarisch ist er nicht geworden.“

„Sie kennen ihn nicht. Wissen nicht, wie er früher war. Und was aus ihm geworden ist.“

„Wenn er so voller Boshaftigkeit steckt, wie Sie behaupten, wie soll ich dann jemals sein Vertrauen gewinnen?“

„Gehen Sie einfach zu ihm. Machen Sie ein argloses und vertrauenswürdiges Gesicht. Da brauchen Sie sich gar nicht groß anzustrengen, Ned. Sie haben schon von Natur aus ein unschuldiges Gesicht. Erzählen Sie ihm, Sie seien Teilnehmer einer archäologischen Forschungsexpedition. Und lassen Sie sich mit keiner Miene anmerken, daß Sie bereits vorher von seiner Anwesenheit wußten. Sagen Sie ihm, Sie hätten das erst festgestellt, als unsere Drohne über ihn gestolpert ist. In diesem Augenblick hätten sie ihn wiedererkannt, sich an die Zeit erinnert, als er und Ihr Vater gute Freunde gewesen sind.“

„Ich soll also meinen Vater erwähnen?“

„Aber in jedem Fall. Eröffnen Sie ihm, wer Sie sind. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Erzählen Sie ihm, daß Ihr Vater verstorben ist, und fügen Sie hinzu, daß dies Ihre erste größere Reise in den Weltraum sei. Wecken Sie vor allem seine Sympathie, Ned. Rufen Sie väterliche Gefühle in ihm wach.“

Rawlins schüttelte den Kopf, „Seien Sie mir bitte nicht böse, Charles, aber mir gefällt das alles nicht — dieses Lügen.“