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„Kommen wir doch auch einmal zu dir“, sagte Muller endlich. „Du bist cleverer, als du vorgibst. Deine Schüchternheit behindert dich vielleicht noch etwas, aber du besitzt einen ausgezeichneten Verstand, der sorgfältig hinter einem Pennälerauftreten verborgen liegt. Was willst du eigentlich erreichen, Ned? Was gibt dir die Archäologie?“

Rawlins sah ihm direkt ins Gesicht. „Sie gibt mir die Chance, Millionen von Vergangenheiten zu begreifen. Im Grunde bin ich genauso unersättlich wie du. Ich will wissen, wie es zu bestimmten Entwicklungen gekommen ist, was alles passiert ist. Und zwar nicht nur auf der Erde oder im Sonnensystem, sondern überall.“

„Gut gesprochen, mein Junge!“

Das denke ich mir auch, sagte sich Rawlins und hoffte, Boardman wäre ebenso erfreut über seine wiedergefundene Beredsamkeit.

„Ich denke mir“, fuhr er fort, „ich hätte mich ebenso wie du für eine Diplomaten-Laufbahn entscheiden können. Aber statt dessen habe ich diesen Weg gewählt. Und ich glaube, meine Entscheidung war richtig. Es gibt so viel zu erforschen und entdecken, hier und überall. Wir haben gerade erst damit begonnen, fremde Welten zu erkunden.“

„Hingabe klingt in deiner Stimme mit.“

„Das überrascht mich nicht.“

„Ich mag diesen Klang. Er erinnert mich an die Art, wie ich selbst einmal gesprochen habe.“

„Damit du nicht den Eindruck gewinnst, ich sei ein idealistischer Spinner, muß ich wohl hinzufügen, daß es vor allem meine Neugierde ist, die mich vorantreibt, und nicht so sehr eine abstrakte Liebe zur Wissenschaft.“

„Das ist verständlich. Und entschuldbar. Dann sind wir beide eigentlich gar nicht so verschieden, wenn man einmal von den circa vierzig Jahren absieht, die zwischen uns stehen. Mach dir nicht allzu viele Gedanken über deine Beweggründe, Ned. Geh zu deinen Sternen, sieh dich um, erleb’ etwas. Irgendwann wird das Leben auch dich zerschmettern, so wie es das mit mir getan hat. Aber bis dahin ist es noch lang. Irgendwann einmal, vielleicht auch nie, wer will das schon wissen? Vergiß das lieber wieder.“

„Ich will es versuchen“, sagte Rawlins.

Er spürte jetzt Wärme von seinem Gegenüber, den Ausfluß tiefer und ehrlich gemeinter Sympathie. Natürlich war die alptraumhafte Woge damit nicht verschwunden, die nicht enden wollende Ausstrahlung aus den Sümpfen der Seele. Sie war jetzt deutlich verdünnt, aber immer noch wahrzunehmen. Behindert durch sein Mitleid und seine Schuldgefühle zögerte Rawlins, jetzt das zu sagen, was er sagen mußte. Aber Boardman drängte ihn unerbittlich, ließ ihm keine Ruhe. „Nun machen Sie schon, mein Junge! Vorwärts, sagen Sie es ihm!“

„Das scheinen ja wirklich sehr schöne Gedanken zu sein“, sagte Muller, „du siehst aus, als wärst du ganz weit weg.“

„Ich habe nur nachgedacht… mußte gerade daran denken, wie traurig es doch ist, daß du uns nicht vertrauen kannst. Daß du gegenüber der Menschheit eine so feindselige Haltung an den Tag legst.“

„Ich habe sie mir hart, aber ehrlich erworben.“

„Du brauchst trotzdem nicht den Rest deines Lebens in diesem Labyrinth zu bleiben. Es gibt einen Ausweg.“

„Unsinn.“

„Hör mir doch erst einmal zu“, sagte Rawlins. Er atmete tief durch und setzte sein angenehmstes und offenstes Lächeln auf. „Ich habe mit dem Expeditionsarzt über deinen Fall gesprochen. Er hat Neurochirurgie studiert und weiß alles über dich. Er sagt, daß es heute Möglichkeiten gibt, dich zu heilen. Es sei noch recht neu, gerade erst vor ein paar Jahren entwickelt. Und es… es blockt die Ausstrahlung ab, Dick. Er sagte, ich soll dir das erzählen. Wir nehmen dich mit auf die Erde, Dick, um dich zu operieren. Eine Operation, Dick. Heilung.“

2

Das messerscharfe, glitzernde, mit Widerhaken versehene Wort schwamm auf der Spitze einer Sturmwoge aus einschmeichelnden Klängen auf ihn zu und traf ihn mitten ins Herz. HEILUNG! Er riß die Augen weit auf. Der Schall von den umstehenden, düsterdunklen Gebäuden dröhnte auf ihn ein. Heilung. Heilung. Heilung. Muller spürte, wie die teuflische Versuchung an seinen inneren Organen nagte.

„Nein“, sagte er. „Das ist Unsinn. Es gibt keine Heilung.“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

„Ich weiß es eben.“

„Auch die Wissenschaft macht in neun Jahren Fortschritte. Man weiß jetzt, wie das Gehirn arbeitet. Alles vollzieht sich dort auf der Grundlage von Elektrizität. In den Mondlabors haben sie ein phantastisches Simulationsmodell gebaut — vor ein paar Jahren. Sie haben Gehirnfunktionen und -zusammenhänge von Anfang bis Ende durchgespielt. Und ich bin der festen Überzeugung, daß sie ganz versessen darauf sind, dich wieder auf der Erde zu haben, weil du alle ihre Theorien verifizieren kannst. Ganz besonders in deinem augenblicklichen Zustand. Und indem sie dich operieren, deine Ausstrahlung umkehren, demonstrieren sie die Richtigkeit ihrer Thesen. Alles was du zu tun hast, ist, mit uns auf die Erde zurückzukehren.“

Muller rieb pausenlos die Knöchel aneinander. „Warum hast du das nicht schon früher gesagt?“

„Da wußte ich noch nichts davon.“

„Aha.“

„Ehrlich. Wir haben nicht erwartet, dich hier zu finden, weißt du. Und zuerst konnte sich auch niemand so recht einen Reim darauf machen, wer du warst und warum du dich im Labyrinth eingerichtet hattest. Ich habe es ihnen erklärt. Dann erinnerte sich der Arzt daran, daß es eine Behandlung gibt. — Was ist los… glaubst du mir etwa nicht?“

„Du sitzt da wie die reine Unschuld“, sagte Muller. „Mit reinen blauen Augen und goldenem Haar. Was für ein Spiel spielst du hier wirklich, Ned? Warum ziehst du hier so einen Blödsinn ab?“

Rawlins lief rot an. „Das ist kein Blödsinn.“

„Ich glaube dir nicht. Und an deine Behandlung glaube ich erst recht nicht.“

„Das steht dir frei. Aber du wirst das Nachsehen haben, wenn…“

„Versuch ja nicht, mir zu drohen!“

„Tut mir leid.“

Langes, unangenehmes Schweigen folgte.

In Mullers Kopf purzelten die Gedanken wie in einem Labyrinth durcheinander. Lemnos verlassen? Erlösung von dem Fluch? Endlich wieder eine Frau in den Armen halten können? Deren Brüste wie Feuer auf seiner Haut brannten? Lippen? Hüften? Noch einmal eine Karriere aufbauen? Noch einmal nach den Sternen greifen? Neun Jahre Leben voller Verbitterung einfach abstreifen? Ned doch glauben? Mitfliegen? Sich unterwerfen?

„Nein“, sagte er zögernd. „Es gibt keine Heilung für mein Leiden.“

„Das sagst du jetzt schon zum zigsten Mal. Aber wissen kannst du es trotzdem nicht.“

„Es paßt einfach nicht ins Muster. Ich glaube nämlich an die Macht des Schicksals, mein Junge. An eine ausgleichende Ungerechtigkeit. Daran, daß der tief stürzt, der hoch hinaufgestiegen ist. Die Götter verhängen keine zeitlich begrenzten Strafen. Sie erlassen sie einem nicht nach ein paar Jahren. Ödipus bekam seine Augen nicht zurück. Und auch nicht seine Mutter. Und Prometheus wollten sie auch nicht vom Fels loslassen. Sie…“