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„Du lebst nicht in einer griechischen Tragödie“, erklärte ihm Rawlins. „Das hier ist die reale Welt. Das Muster erfüllt sich nicht immer exakt und hundertprozentig. Vielleicht haben die Götter in deinem Fall aber entschieden, daß du lange genug gelitten hast. Und wo wir schon einmal beim Thema sind: Sie haben auch Orest vergeben, nicht wahr? Warum sollten also neun Jahre für dich nicht ausreichend sein?“

„Gibt es eine Behandlung?“

„Der Arzt sagt ja.“

„Ich glaube, du lügst mich an, mein Junge.“

Rawlins sah zur Seite. „Was könnte ich schon dadurch gewinnen, wenn ich dich anlüge?“

„Das weiß ich nicht.“

„Also gut, ich habe dich angelogen“, sagte Rawlins kurz angebunden. „Es gibt keine Möglichkeit, dir zu helfen. Komm, wir wollen über etwas anderes reden. Warum zeigst du mir nicht den Springbrunnen, aus dem der Schnaps kommt?“

„Er befindet sich in Zone C“, sagte Muller. „Aber ich habe jetzt keine große Lust, dorthin zu gehen. Warum hast du mir die Geschichte denn erzählt, wenn sie nicht wahr ist?“

„Ich sagte, wir wollen das Thema wechseln.“

„Laß uns doch einmal für einen Moment annehmen, sie sei wahr“, beharrte Muller. „Daß ich geheilt werden kann, wenn ich auf die Erde mitkomme. Ich möchte nur vorausschicken, daß ich daran gar nicht interessiert bin, selbst wenn du mir Brief und Siegel darauf geben würdest. Ich kenne die wahre Natur des Menschen. Als ich am Boden lag, haben sie auf mich eingetreten. Sie besitzen keine Fairneß, sondern sind hinterhältig, Ned. Sie stinken. Sie bereiten Übelkeit und Ekel. Sie haben sich noch über das gefreut, was mir zugestoßen ist.“

„Das siehst du falsch!“

„Was weiß du denn schon? Du warst damals noch ein Kind. Warst noch kindischer, als du es heute noch bist. Sie haben mich wie Dreck behandelt, weil ich ihnen gezeigt habe, wie es in ihrem Innern aussieht. Ich war der Spiegel ihrer verderbten Seelen. Warum sollte ich jetzt zu ihnen zurückkehren wollen? Wozu brauche ich sie noch? Sie sind Würmer. Schweine. Ich habe sie so gesehen, wie sie wirklich sind… während der wenigen Monate, die ich nach Beta Hydri IV auf der Erde war. Der entsetzte Ausdruck in ihren Augen, das nervöse Lächeln auf ihren Lippen, während sie vor mir zurückfahren. Jawohl, Mr. Muller. Aber natürlich, Mr. Muller. Aber kommen Sie mir bitte nicht zu nahe, Mr. Muller. Du mußt einmal in der Nacht zu mir kommen, mein Junge, dann kann ich dir die Sternkonstellationen zeigen, wie sie von Lemnos aus zu sehen sind. Ich habe einigen sogar einen Namen gegeben. Da ist zum Beispiel der Dolch, ein langgezogenes, schlankes Sternbild. Es steht bereit, um jemandem in den Rücken gestoßen zu werden. Und dann ist da der Pfeil. Und du kannst auch den Affen und die Kröte sehen. Sie greifen ineinander über. Ein Stern ist auf der Stirn des Affen zu sehen, der gleichzeitig das linke Auge der Kröte bildet. Dieser Stern ist die Sonne, mein Freund. Ein häßlicher, kleiner gelber Stern, der die Farbe von flüssiger Kotze hat. Und dessen Planeten von häßlichen, kleinen Wesen bewohnt sind, die sich wie verspritzter Urin über das ganze Universum verbreitet haben.“

„Darf ich etwas sagen, das vielleicht beleidigend klingt?“ fragte Rawlins.

„Du kannst mich nicht beleidigen. Aber du darfst es gerne einmal versuchen.“

„Ich halte deine Betrachtungsweise für verzerrt. Du hast in all den Jahren, die du hier bist, die Perspektive verloren.“

„Nein, ich habe zum ersten Mal gelernt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.“

„Du wirfst der Menschheit vor, daß sie aus Menschen besteht. Es ist nicht leicht, jemanden wie dich zu akzeptieren. Wenn du hier an meiner Stelle sitzen würdest und ich an deiner, würdest du das verstehen. Es schmerzt, in deiner Nähe zu sein. Es schmerzt. In diesem Moment spüre ich in jeder einzelnen Nervenfaser Schmerz. Wenn ich dir noch näher käme, könnte ich kaum meinen Drang zu weinen bezähmen. Du kannst einfach nicht erwarten, daß die Leute sich so einfach anpassen. Noch nicht einmal die, die dich lieben…“

„Es gibt niemanden, der mich liebt.“

„Du warst verheiratet.“

„Ja, aber nur auf Zeit.“

„Also Eheverträge.“

„Sie konnten es in meiner Nähe nicht mehr aushalten, als ich zurückkehrte.“

„Und Freunde?“

„Die haben sich schnell zurückgezogen“, sagte Muller. „Auf sechs Beinen sind sie vor mir davongekrabbelt.“

„Du hast ihnen nicht genug Zeit gelassen.“

„Doch, sie hatten Zeit genug.“

„Nein“, beharrte Rawlins. Er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. „Jetzt werde ich dir einmal etwas sagen, was dir wirklich Schmerz bereiten wird, Dick. Es tut mir leid, aber ich muß es tun. Was du mir erzählt hast, ist der Krampf, den ich mir schon auf dem College bis zum Erbrechen anhören mußte. Pubertätszynismus und so. Du sagst, die Welt ist nur zu verachten. Sie ist böse, gemein und niederträchtig. Du hast die wahre Natur des Menschen erkannt und willst deshalb mit der Menschheit nichts mehr zu tun haben. Mit achtzehn Jahren redet jeder so daher. Aber das ist eine Wachstumsphase, die vorübergeht, von einer anderen abgelöst wird. Wir überwinden die Verwirrung auch wieder, die mit achtzehn über uns kommt, und dann können wir erkennen, daß die Welt ein ganz angenehmer Ort ist, daß die Leute sich redlich bemühen, daß wir zwar nicht perfekt, aber ganz und gar nicht widerwärtig sind…“

„Ein Achtzehnjähriger hat kein Recht auf eine solche Meinung. Ich dagegen schon. Ich habe meinen Haß auf Heller und Pfennig erworben, bin mit der Nase darauf gestoßen worden.“

„Aber warum klebst du denn so daran? Du scheinst dich deines Leids zu rühmen. Befrei dich doch davon! Schüttle es ab! Komm mit zur Erde und vergiß die Vergangenheit. Oder übe wenigstens Nachsicht.“

„Es gibt weder Vergessen noch Vergeben“, knurrte Muller. Eine Woge aus Furcht durchfuhr ihn, er zitterte. Was, wenn das alles wahr wäre? Eine durchgreifende Heilung? Lemnos verlassen? Er war verwirrt. Der Junge hatte seinen wunden Punkt mit der Bemerkung über den Pubertätszynismus getroffen. Und er hatte recht damit. Bin ich wirklich so ein Misanthrop? Gebe ich nur etwas Hohles vor? Er hat mich gezwungen, darüber nachzudenken. Polemische Gründe. Und jetzt ersticke ich an meiner eigenen Dickköpfigkeit. Aber es gibt keine Heilung. Der Junge verhält sich zu durchsichtig. Er lügt, auch wenn ich nicht weiß, warum. Er will mich hineinlegen, will mich an Bord ihres Schiffes locken. Und wenn es doch stimmt? Warum nicht zurück auf die Erde? Muller wußte die Antwort darauf: Die Furcht hielt ihn zurück. Das Wiedersehen mit den Milliarden Erdmenschen. Wieder in das brodelnde Leben eintreten. Neun Jahre hatte er in seiner isolierten Inselstadt zugebracht, und jetzt machte ihm die Vorstellung einer Rückkehr Angst. Er gab sich einer Stimmung aus tiefer Depression hin, sah sich mit harten Wahrheiten konfrontiert. Der Mann, der einst ein Gott hatte sein wollen, war nun nicht mehr als ein erbärmlicher Neurotiker; einer, der sich an seine Isolation klammerte; einer, der seinem möglichen Retter mit Trotz begegnete. Traurig, mein lieber Muller, dachte er. Sehr traurig.

„Ich spüre“, sagte Rawlins, „daß die Qualität deiner Ausstrahlung sich etwas verändert hat.“

„Das kannst du?“

„Oh, es ist nichts Spezifisches. Aber bis vorhin herrschten Ärger und Bitterkeit vor. Nun empfange ich etwas anderes… Sehnsucht.“

„Noch nie hat jemand erklärt, er könne aus meiner Ausstrahlung etwas Bestimmtes herauslesen“, sagte Muller erstaunt. „Aber eigentlich hat sich nie jemand darüber ausgelassen. Außer, daß es schmerzhaft sei, in meiner Nähe zu sein. Und abstoßend.“