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Ihm hatten neun Jahre zur Verfügung gestanden, um seine Erinnerungen zu ordnen und Lücken zu schließen. Einige Würfel hatte er mit ihnen gefüllt. Aber das war nur in den ersten Jahren seines Exils geschehen, als er sich noch darum gesorgt hatte, seine Vergangenheit könne sich im Nebel des Vergessens verlieren. Er entdeckte, daß die Erinnerungen im Alter deutlicher wurden. Vielleicht lag das aber auch an seinem Training. Aus dem Gedächtnis konnte er jederzeit Formen und Farben, Geräusche, Geschmäcke und Gerüche abrufen. Er konnte ganze Gespräche nahezu lückenlos rekonstruieren. Er konnte den vollen Text von etlichen Verträgen zitieren, die er abgeschlossen hatte. Er konnte alle englischen Könige in der richtigen Reihenfolge vom ersten bis zum letzten aufzählen, von Wilhelm dem Eroberer bis zu William VII. Und er erinnerte sich an die Körper aller Mädchen, mit denen er geschlafen hatte.

Er gestand sich ein, daß er bei der erstbesten Chance zurückkehren würde. Alles andere war nur Selbstbetrug und Heuchelei. Er wußte, er konnte weder sich selbst noch Ned Rawlins täuschen. Die Zweifel, die er an der Menschheit hegte, waren echt, nicht aber sein Wunsch nach Isolation. Ungeduldig wartete er auf Ned Rawlins’ Rückkehr. Während der Wartezeit trank er einige Gläser des Schnapses, den die Stadt sprudeln ließ. Aus Spaß oder Langeweile ging er auf die Jagd und tötete in seinem nervösen Eifer mehr Tiere, als er in einem Jahr verbrauchen konnte. Er führte unverständliche Gespräche mit sich selbst. Er träumte von der Erde.

6

Rawlins rannte. Muller, der hundert Meter tief in Zone C stand, sah, wie er atemlos und mit gerötetem Kopf durch den Eingang kam.

„Du solltest hier nicht so rennen“, sagte Muller. „Nicht einmal in den sicheren Zonen. Man weiß wirklich nie, ob…“

Rawlins ließ sich neben einer vorstehenden Kalksteinwand fallen. Krampfhaft hielt er sich dort fest und rang keuchend nach Atem. „Hol mir etwas zu trinken, ja?“ schnaufte er. „Diesen Schnaps…“

„Bist du in Ordnung?“

„Nein.“

Muller ging zu dem nicht weit entfernt stehenden Brunnen und füllte dort eine kleine Flasche mit dem hochprozentigen Getränk. Rawlins fuhr überhaupt nicht zusammen, als Muller sich ihm wieder näherte, um ihm die Flasche zu geben. Er schien seine Ausstrahlung gar nicht zu bemerken. Gierig leerte Ned die Flasche, verschüttete dabei ein gutes Teil und ließ Tropfen der glitzernden Flüssigkeit über Kinn und Kleider rinnen. Danach schloß er einen Moment die Augen.

„Du siehst ja furchtbar aus“, sagte Muller. „Als wärst du gerade vergewaltigt worden, würde ich sagen.“

„So ähnlich.“

„Was ist denn los?“

„Warte. Laß mich erst wieder zu Atem kommen. Ich bin den ganzen Weg von Zone F bis hierher gerannt.“

„Dann kannst du aber von Glück sagen, daß du noch am Leben bist.“

„Vielleicht.“

„Noch etwas zu trinken?“

„Nein“, sagte Rawlins, „im Augenblick nicht.“

Muller studierte ihn verwirrt. Die Veränderung an ihm war nicht zu übersehen und bestürzend. Bloße Erschöpfung konnte es nicht sein. Die Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht stark gerötet und aufgedunsen. Die Gesichtsmuskeln waren außerordentlich verkrampft. Seine Augen rollten wild, so als suchten sie etwas, das sie nicht finden konnten. War er betrunken? Krank? Stand er unter Drogen?

Rawlins sagte nichts.

Nach längerem Schweigen machte Muller notgedrungen den Anfang und sagte: „Ich habe viel über unser letztes Gespräch nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich mich wie ein verdammter Narr aufgeführt habe. Vor allem bei dem dummen, menschenfeindlichen Geschwätz, das ich andauernd aufgetischt habe.“ Muller bückte sich und versuchte, dem jungen Mann in die unruhigen Augen zu sehen. „Hör zu, Ned, ich will das alles zurücknehmen. Ich bin gern bereit, auf die Erde zurückzufliegen und mich dort behandeln zu lassen. Selbst, wenn das Heilverfahren noch nicht ganz ausgereift sein sollte, so will ich es doch versuchen. Im schlimmsten Fall kann man mir eben nicht helfen, und…“

„Es gibt keine Behandlungsmethode“, sagte Rawlins dumpf.

„Keine… Behandlungs…“

„Nein, keine Heilung. Nichts. Es war alles Lüge.“

„Ja. Sicher.“

„Du hast es selbst gesagt“, erinnerte Rawlins. „Du wolltest mir kein Wort glauben, nicht wahr?“

„Eine Lüge.“

„Du hast nicht begriffen, warum ich dir das erzählt habe, aber du hast dennoch gesagt, es sei alles Unsinn. Du hast mir ins Gesicht gesagt, ich würde lügen. Du hast dich gefragt, was mir eine Lüge nützen könne. Aber ich habe wirklich gelogen, Dick.“

„Gelogen.“

„Ja.“

„Aber ich hatte meine Meinung doch geändert“, sagte Muller leise. „Ich war bereit und willens, auf die Erde zurückzukehren.“

„Du brauchst dir keine Hoffnung auf eine Heilung zu machen“, erklärte ihm Rawlins.

Er stand langsam auf und strich sich mit der Hand durch das lange, goldfarbene Haar. Er zog seine verrutschte Kleidung zurecht. Dann hob er die Flasche vom Boden, ging damit zum Springbrunnen und füllte sie erneut. Nachdem er zurückgekehrt war, reichte er sie Muller, der aus ihr trank. Rawlins nahm den Rest zu sich. Ein kleines und gefräßig aussehendes Etwas rannte hinter ihnen vorbei und verschwand durch das Tor zur Zone D.

Schließlich sagte Muller: „Möchtest du mir das nicht erklären?“

„Wir sind keine Archäologen.“

„Weiter.“

„Wir sind hierher gekommen, weil wir nach dir gesucht haben. Es war kein Zufall. Wir wußten die ganze Zeit schon, wo du dich aufhältst. Man ist dir auf der Fährte geblieben, als du vor neun Jahren die Erde verlassen hast.“

„Aber ich habe doch alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen.“

„Sie haben dir nichts genutzt. Boardman wußte, wohin du wolltest, und ließ dich die ganze Zeit überwachen. Er hat dich bis heute in Frieden gelassen, weil er für dich keine Verwendung hatte. Aber als ein besonderer Notfall eintrat, ist er dir gefolgt. Er hat dich sozusagen in Reserve gehalten.“

„Charles Boardman hat dich geschickt, um mich aufzuspüren?“ fragte Muller.

„Ja, genau aus diesem Grunde sind wir hier. Das ist der einzige Zweck unserer Expedition“, antwortete Rawlins tonlos.

„Ich wurde dazu bestimmt, mit dir Kontakt aufzunehmen, weil du meinen Vater gut gekannt hast und mir am ehesten vertrauen würdest. Und weil ich so ein unschuldiges Gesicht habe. Die ganze Zeit über hat Boardman mir Anweisungen und Verhaltensmaßregeln gegeben. Er hat mir eingeflüstert, was ich dir sagen soll, hat mich gelenkt, hat mir sogar gesagt, welche Fehler und Dummheiten ich machen soll, um dich noch erfolgreicher hinters Licht zu führen. Er hat mir zum Beispiel gesagt, ich solle den Käfig betreten. Er glaubte, damit könnte ich leichter deine Sympathie gewinnen.“

„Boardman ist hier? Auf Lemnos?“

„Ja, in Zone F. Dort steht sein Lager.“

„Charles Boardman?“

„Ja, genau der. Er ist hier.“

Mullers Gesicht war steinern. In seinem Innern herrschte Aufruhr. „Warum hat er das getan? Was will er denn von mir?“

„Du weißt“, sagte Rawlins, „daß es im Universum außer uns und den Hydriern eine dritte Spezies gibt?“

„Ja, sie waren gerade entdeckt worden, als ich verschwand. Deshalb sollte ich ja auch zu den Hydriern reisen. Ich flog mit dem Auftrag, eine Verteidigungsallianz mit ihnen zu schließen, bevor diese anderen Wesen, die Extragalaktiker, mit uns Kontakt aufnehmen konnten. Meine Mission scheiterte. Aber was hat das…“