Siebentausend Kilometer über dem sechsten Planeten flog eine glitzernde Kapsel in einer festen Umlaufbahn. Sie besaß die Masse eines großen interstellaren Transportschiffes und hatte elliptische Form. Im Orbit über der fünften Welt entdeckte Muller ein ähnliches Gebilde — die Aufseher.
Es war ihm nicht möglich, Kontakt aufzunehmen, weder mit den Kapseln, noch mit den unter ihm liegenden Planeten. Alle Frequenzen und Funkkanäle waren blockiert. Verärgert drehte er über eine Stunde am Frequenzsucher herum und ignorierte dabei die negativen Antworten des Schiffscomputers und dessen ständige Mahnung, seine Versuche aufzugeben.
Er steuerte das Schiff nahe an die nächste Aufseherkapsel heran. Zu seiner großen Überraschung blieb der Raumer unter seiner Kontrolle. Kampfraketen, die den Fremden bisher so nahe gekommen waren, hatten die Aufseher umdirigiert. Aber er konnte immer noch ungehindert navigieren. Ein Zeichen, das zur Hoffnung Anlaß gab? Wurde er beobachtet, und konnte der Fremde ihn von einer feindlichen Waffe unterscheiden? Oder wurde er schlichtweg übersehen?
Bei einer Entfernung von einer Million Kilometern paßte er seine Geschwindigkeit der des fremden Satelliten an und brachte sein Schiff in einen Parkorbit. Dann bestieg er seine Landekapsel. Er startete sie und glitt hinaus in die Schwärze des Alls.
3
Nun streckte der Fremde seine Fühler nach ihm aus. Daran konnte kein Zweifel mehr bestehen. Die Landekapsel war auf eine energiesparende Bahn programmiert, die sie zu gegebener Zeit in die Nachbarschaft des Fremden bringen sollte. Aber rasch stellte Muller fest, daß sein Schiff von dieser Bahn abkam. Solche Abweichungen entsprangen nie einem Zufall. Entgegen der Programmierung wurde seine Kapsel immer schneller, was nur bedeuten konnte, daß sie von einer fremden Kraft gesteuert und angezogen wurde. Muller unternahm nichts dagegen. Er war von eiskalter Ruhe erfüllt, erwartete nichts und war auf alles vorbereitet. Die Landekapsel flog nun eine Abwärtskurve. Er konnte den glitzernden Block des fremden Satelliten nun deutlich erkennen.
Metallhaut traf auf Metallhaut. Die beiden Schiffe berührten sich. Vereinigten sich.
Eine Luke glitt auf. Muller trieb hinein.
Seine Kapsel kam auf einer breiten Plattform in einer gewaltigen Halle, die mit ihrer Ausdehnung von hundert Metern in Höhe, Breite und Tiefe die Ausmaße einer Höhle besaß, zur Ruhe. Im geschlossenen Schutzanzug verließ Muller seine Kapsel. Er aktivierte seine Gravitationsschuhe. Denn wie er erwartet hatte, war die Schwerkraft hier so minimal, daß er sie kaum spürte. Im vorherrschenden Dunkel entdeckte er ein schwaches, purpurrotes Glühen. Vor dem Hintergrund völliger Stille hörte er ein dröhnendes, widerhallendes Geräusch, das wie ein bis ins Unermeßliche gesteigertes Seufzen klang und sich zaudernd durch die Gitter und Streben im Satelliten fortsetzte. Trotz der Gravitationsschuhe fühlte Muller sich schwindelig. Unter ihm wogte der Boden. Vor seinem geistigen Auge entstand plötzlich die Empfindung einer wogenden See. Riesige Brecher schlugen gegen eine felsige Küste. Die Wassermassen quirlten und raunten in dieser kugelartigen Höhle. Die kleine Welt erzitterte unter dieser Last. Muller spürte eine Kälte, vor der ihn auch der Anzug nicht schützen konnte. Und eine unwiderstehliche Kraft zog an ihm. Zögernd gab er ihr nach und stellte dabei überrascht und erleichtert fest, daß seine Gliedmaßen ihm immer noch gehorchten. Allerdings war er nicht mehr ihr alleiniger Herr. Das Gefühl, sich in der Nähe von etwas unfaßbar Großem zu befinden, etwas Wogendem, Pulsierendem und Seufzendem, setzte sich in seinem Kopf fest.
Er wanderte über eine nachtschwarze Straße und gelangte an eine niedrige Brüstung — eine rote Linie, die sich matt von der tiefdunklen Schwärze abhob — und preßte ein Bein dagegen. Auf seinem weiteren Weg achtete er darauf, sie immer an seinem Bein zu spüren. An einer Stelle rutschte er aus, und als sein Ellenbogen auf der Stange aufschlug, hörte er, wie sich ein metallisches Echo durch die ganze Anlage fortpflanzte. Ein verzerrter Widerhall kehrte auf dem gleichen Weg an sein Ohr zurück. Während er sich weiter durch diesen Irrgarten bewegte, kam er an Gängen und Lukendeckeln vorbei, marschierte über Laufstege, die dunkle Abgründe überspannten, lief über rampenartige Einmündungen und geriet von ihnen in hochthronende Räume, deren Decke kaum sichtbar war. Er bewegte sich blind vertrauend; er hatte keine Angst. Er konnte kaum die Hand vor Augen ausmachen, geschweige denn die ganze Struktur dieses Satelliten erkennen. Sinn, Zweck und Funktion dieser Einrichtung blieben ihm verborgen, er konnte sie sich kaum vorstellen.
Von dem versteckten Riesenwesen kamen lautlos Wellen, die ständig an Intensität und Druck gewannen. Er strauchelte fast unter ihrem Zugriff. Aber immer noch setzte er seinen Marsch fort, bis er sich auf einer Art Zentralgalerie befand. Ein hellblaues, nicht allzu starkes Glühen herrschte hier, durch das er Ebenen wahrnehmen konnte, die sich tief unter ihm in der Dunkelheit verloren. Und weit unterhalb seiner Brücke sah er einen riesigen Tank. In ihm befand sich etwas Titanisches, etwas Glitzerndes.
„Also, hier bin ich“, sagte er, „Richard Muller, Erdenmensch.“
Er hielt sich mit beiden Händen an einer Querstange fest und sah angestrengt nach unten. Er wartete. Irgend etwas mußte doch geschehen. Bewegte sich da nicht das Riesenwesen? Stöhnte es nicht? Rief es ihn in einer Sprache, die er verstand? Aber er hörte nichts. Dafür fühlte er um so mehr: Langsam, eher unterschwellig wurde er sich eines Kontaktes bewußt, einer Vermengung, eines Verschlingens.
Er spürte, wie seine Seele ihn aus allen Poren strömend verließ.
Der Ausfluß ließ sich nicht aufhalten. Und Muller wollte sich auch gar nicht dagegen wehren. Er öffnete sich, begrüßte das Ziehen, gab gern und aus freien Stücken nach. Von dort unten im Tank zapfte das Monstrum seinen Geist an, drehte alle Ventile seiner Neuralenergie auf, saugte alles auf, verlangte immer noch nach mehr und bemächtigte sich auch noch der verborgensten Reste.
„Nur zu“, rief Muller. Das Echo seiner Stimme umtanzte ihn, schlug an seinem Körper an, hallte von überall wieder. „Trink mich! Wie schmeckt es dir? Ein bitteres Gebräu, was? Trink nur! Trink!“ Seine Knie gaben nach, er sank nach vorn und preßte die Stirn an die kühle Brüstung, während seine letzten Reserven ausgepumpt wurden.
Er ergab sich leichten Herzens, schenkte Tropfen um Tropfen her. Er verschenkte seine erste Liebe und seine erste Enttäuschung. Offenbarte alles: Regenschauer im April; Fieber; Schmerz; Stolz und Hoffnung; Wärme und Kälte; süß und sauer; den Geruch von Schweiß und die Berührung warmer Haut; den Donner der Musik und die Musik des Donners; seidiges Haar, mit dem seine Finger spielten; Linien, die man in weicher Erde zog; glitzernde Schulen winziger Fische; die Turmanlagen von Newer Chikago; die Bordelle von Under New Orleans; Schnee; Milch; Wein; Hunger; Feuer; Schmerz; Schlaf; Sorge; Apfel; Dämmerung; Tränen; Johann Sebastian Bach; brutzelndes Fett in der Pfanne; das Lachen alter Männer; Sonnenuntergang am Horizont; das Widerspiegeln des Mondes auf dem Meer; das Licht der Sterne am Himmel; den Feuerstrahl startender Raketen; Sommerblumen unter Gletschergipfeln. Vater; Mutter; Jesus; das ewig wiederkehrende Wunder des Morgens; Traurigkeit; Freude. Er gab alles hin und noch viel mehr. Und er wartete auf Antwort. Aber die erhielt er nie. Und als er ganz und gar leer war, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem Metallboden. Ausgesaugt, hohl und erschöpft starrte er mit blinden Augen in den Abgrund.