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In diesem Jahr beteiligte sich Karim nicht an dem chatir. Er hatte nicht mehr geübt und war auch für einen Läufer viel zu schwer geworden. Er wohnte dem Rennen mit Alä Shahansha als Zuschauer bei.

Der erste Tag des Monats Shawwa dämmerte noch heißer herauf als der Tag, an dem Karim gesiegt hatte, und die Läufer waren diesmal sehr langsam. Der Herrscher hatte wieder jedem einen calaat versprochen, der Karims Spitzenleistung wiederholen und alle zwölf Runden vor dem letzten Gebet beenden konnte. Aber es war klar ersichtlich, daß an diesem Tag niemand einhundertsechsundzwanzig Meilen laufen würde.

Es kam erst ab der fünften Runde zu einem Wettkampf und schließlich zu einem Duell zwischen al-Harät aus Hamadhän und einem jungen Soldaten namens Nafis Jurjis. Aber nachdem Nafis sich seinen achten Pfeil geholt hatte, gab er auf, so daß nur noch al-Harät im Rennen war. Da es schon spät am Nachmittag und die Hitze unmenschlich war, gab al-Harät vernünftigerweise durch Zeichen zu verstehen, daß er die Runde beenden und seinen Sieg anmelden würde. Karim und der Schah ritten die letzte Runde ein Stück vor dem Läufer her, um ihn am Ziel zu begrüßen, Alä auf seinem wilden weißen Hengst und Karim auf seinem unruhigen grauen Araber.

Karims schlechte Stimmung hatte sich im Lauf des Rennens gebessert, weil es lange dauern würde - wenn es überhaupt dazu kam —, bis ein anderer Läufer den chatir so gut schaffen würde wie er. Als sie an der madrassa vorbeikamen, erblickte er den Eunuchen Wasif auf dem Dach des Krankenhauses und neben ihm die verschleierte Despina. Bei ihrem Anblick vollführte Karims Herz einen Sprung, und er lächelte. War es nicht besser, auf einem herrlichen Pferd und in Seide und Leinen gekleidet vor ihr vorbeizureiten, als nach Schweiß stinkend und blind vor Erschöpfung vorbeizuwanken? Nicht weit von Despina wurde einer Frau ohne Schleier die Hitze zuviel. Sie nahm ihren schwarzen Schal ab und schüttelte den Kopf, als wolle sie Karims stolzes Pferd nachahmen. Ihr Haar fiel herab und breitete sich, lang und wogend, fächerförmig aus. Die Sonne schimmerte herrlich in den Flechten und zauberte verschiedene Farbabstufungen von Gold und Rot auf sie.

Der Schah fragte den neben ihm reitenden Karim: »Ist das die Frau des Dhimmi, die Europäerin?«

»Ja, Majestät. Die Frau unseres Freundes Jesse ben Benjamin.« »Das dachte ich mir«, sagte Alä. Der Schah beobachtete die unverschleierte Frau, bis sie an ihr vorbei

waren. Er stellte keine Fragen mehr, und bald konnte ihn Karim in ein Gespräch über den indischen Schmied Dhan Vangalil und die Schwerter verwickeln, die dieser mit seinem neuen Ofen in der Schmiede hinter den Ställen des Hauses des Paradieses herstellte.

Die verschmähte Belohnung

Der Meister hatte über viele Themen geschrieben. Noch als Student hatte Rob Gelegenheit gehabt, seine Werke über Medizin zu lesen, doch jetzt studierte er andere Schriften Ihn Sinas, und er empfand noch mehr Ehrfurcht vor ihm. Er hatte über Musik und Poesie, über Astronomie und Metaphysik, über die östliche Denkweise, die Sprachen und den schöpferischen Geist geschrieben und außerdem Kommentare zu allen Büchern von Aristoteles. Während er in der Festung Fardajän gefangengehalten wurde, hatte er ein Buch mit dem Titel

»Anleitung« geschrieben, das alle Sparten der Philosophie zusammenfaßte. Es lag sogar ein militärisches Handbuch vor, »Die Führung und Versorgung von Soldaten, Sklaventruppen und Armeen«, das Rob nützlich gewesen wäre, wenn er es gelesen hätte, bevor er als Feldscher nach Indien zog. Ibn hatte über Mathematik, die menschliche Seele und über das Wesen des Kummers geschrieben. Und immer wieder hatte er über den Islam geschrieben, die Religion, in der ihn sein Vater erzogen hatte und die er, trotz der Wissenschaft, die sein ganzes Sein erfüllte, voll Vertrauen akzeptieren konnte.

Deshalb liebten ihn auch die Menschen so. Sie sahen, daß Ibn Sina trotz des luxuriösen Besitzes und aller Einkünfte aus dem königlichen calaat, trotz der Tatsache, daß Gelehrte aus aller Welt ihn aufsuchten und Könige um die Ehre wetteiferten, als Gönner des Meisters zu gelten - trotz all dieses Glanzes wie der niedrigste Bettler unter ihnen die Augen zum Himmel erhob und rief:

La ilah illallah;

Muhammadun rasulallah.

Es gibt keinen Gott außer Gott;

Mohammed ist der Prophet Gottes.

Jeden Morgen vor dem ersten Gebet versammelten sich mehrere hundert Menschen vor seinem Haus. Es waren Bettler, mullahs, Hirten, Kaufleute, Arme und Reiche. Der Arzt aller Ärzte trug seinen Gebetsteppich hinaus und verrichtete seine Andacht gemeinsam mit seinen Verehrern; wenn er dann zum maristan ritt, gingen sie neben seinem Pferd her, sangen vom Propheten und rezitierten Verse aus dem Koran.

Jede Woche versammelten sich an mehreren Abenden Schüler in seinem Haus. Für gewöhnlich wurden medizinische Texte gelesen. Ein Vierteljahrhundert lang hatte al-Juzjani jede Woche laut aus Ibn Sinas Werken vorgelesen, am häufigsten aus dem berühmten »Kanon der Medizin«. Manchmal wurde auch Rob ersucht, aus Ibn Sinas Buch »Heilen« vorzulesen. Dann entwickelte sich eine lebhafte Diskussion, eine Mischung aus Trinkgelage und klinischer Debatte, oft hitzig und manchmal auch heiter, aber immer lehrreich.

»Wie gelangt das Blut in die Finger?« rief zum Beispiel al-Juzjani, indem er die verzweifelte Frage eines Studenten wiederholte. »Habt ihr vergessen, daß Galen gelehrt hat, das Herz arbeite wie eine Pumpe und setze so das Blut in Bewegung?«

»Ah!« warf dann Ibn Sina ein. »Und der Wind setzt ein Segelschiff in Bewegung. Aber wie findet es den Weg nach Bahrain?« Wenn Rob fortging, sah er häufig den Eunuchen Wasif im Dunkeln vor der Tür zum Südturm.

Eines Abends schlich Rob zu dem Feld hinter der Mauer von Ibn Sinas Besitz. Er war nicht überrascht, daß Karims grauer Araberhengst dort angebunden war.

Während Rob zu seinem Pferd, das er nicht versteckt hatte, zurückging, beobachtete er das Zimmer im Südturm.

Durch die Fensterschlitze in der runden Steinmauer flackerte das gelbe Licht, und er erinnerte sich ohne Neid oder Bedauern daran, daß Despina gern beim Licht von Kerzen liebte.

Ibn Sina führte Rob in Geheimnisse ein, von denen er bisher kaum eine Ahnung hatte. »Es gibt in uns ein seltsames Wesen - manche nennen es den Geist, andere die Seele -, das große Auswirkungen auf unseren Körper und unsere Gesundheit hat. Zum erstenmal stieß ich bei einem jungen Mann in Buchara darauf, als ich mich für das Thema zu interessieren begann, das mich veranlaßte, >Der Puls< zu schreiben. Ich hatte einen Patienten in meinem Alter namens Achmed; sein Appetit hatte nachgelassen, und er hatte abgenommen. Sein Vater, ein reicher Kaufmann, war verzweifelt und bat mich um Hilfe. Als ich Achmed untersuchte, konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Aber als ich bei ihm verweilte, geschah etwas Merkwürdiges: Meine Finger lagen auf seiner Arterie am Handgelenk, während wir freundschaftlich über verschiedene Orte von Buchara plauderten. Der Puls war langsam und regelmäßig, bis ich das Dorf Efsene erwähnte, in dem ich geboren bin. Da war in seinem Handgelenk ein solches Tremolo zu spüren, daß ich Angst bekam. Ich kannte das Dorf gut und begann, verschiedene Straßen zu erwähnen. Dies blieb ohne große Wirkung, bis ich zur Straße des elften Imam kam, wobei der Puls sich wieder beschleunigte und unregelmäßig wurde. Ich kannte nicht mehr alle Familien in der Straße, aber weitere Fragen und Gedächtnishilfen führten mich darauf, daß in dieser Straße der Kupferschmied Ibn Razi wohnte. Er besaß drei Töchter, von denen die älteste, Ripka, sehr schön war. Wenn Achmed von diesem Mädchen sprach, erinnerte mich das Flattern in seinem Handgelenk an einen verwundeten Vogel.

Ich erklärte dem Vater, daß Achmeds Heilung in der Heirat mit dieser Ripka zu finden sei. Die Hochzeit wurde festgesetzt und fand bald statt. Nicht lange darauf kehrte Achmeds Appetit zurück. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er ein dicker, zufriedener Mann.