Galen lehrte, daß das Herz und alle Arterien im gleichen Rhythmus pulsieren, so daß man anhand einer Stelle alle anderen beurteilen kann, und daß ein langsamer, regelmäßiger Puls auf gute Gesundheit schließen läßt. Aber seit dem Erlebnis mit Achmed habe ich herausgefunden, daß der Puls auch die Erregung eines Patienten oder seine Seelenruhe anzeigen kann. Ich habe es oft bestätigt gesehen, und der Puls hat sich als >der Bote, der nie lügt«, erwiesen.« So lernte Rob, daß er neben seiner Gabe, die Lebenskraft eines Menschen abzuschätzen, den Puls dazu benutzen konnte, um Aufschluß über die Gesundheit und die Stimmung des Patienten zu erhalten. Und er hatte reichlich Gelegenheit zu üben. Verzweifelte Menschen strömten in Scharen zum Arzt aller Ärzte, und viele suchten Wunderheilung. Reiche und Arme wurden zwar gleich behandelt, aber Ibn Sina und Rob konnten nur wenige Patienten annehmen und mußten die meisten an andere Ärzte verweisen. Ein großer Teil von Ibn Sinas medizinischem Wirken galt dem Schah und geachteten Mitgliedern von dessen Gefolge. So schickte eines Morgens der hakim-bashi Rob ins Haus des Paradieses, weil Siddha, die Frau des indischen Waffenschmiedes Dhan Vangalil, an einer Kolik litt.
Als Übersetzer wählte Rob Aläs persönlichen mahout, den Inder Harsha. Siddha erwies sich als freundliche Frau mit rundem Gesicht und ergrauendem Haar. Die Familie Vangalil verehrte Buddha, somit galten hier die mohammedanischen Verbote nicht, und Rob konnte den Bauch der Frau abtasten, ohne bei den mullahs angezeigt zu werden. Nachdem er Siddha eingehend untersucht hatte, kam er zu dem Schluß, daß sie an Ernährungsstörungen litt, denn Harsha erzählte ihm, daß weder die Familie des Schmieds noch die mahouts genügend Kümmel, Gelbwurzel oder Pfeffer erhielten, Gewürze, an die sie ihr Leben lang gewöhnt waren und die sie für ihre Verdauung brauchten. Rob brachte die Angelegenheit in Ordnung, indem er dafür sorgte, daß die Inder diese Gewürze erhielten. Er hatte schon die Achtung einiger mahouts erworben, als er die Kampfwunden ihrer Elefanten behandelt hatte, und nun gewann er auch die Dankbarkeit der übrigen und der Vangalils. Er besuchte sie öfter, denn es faszinierte ihn, was Dhan Vangalil alles mit Stahl anfangen konnte. Dhan hatte über einer seichten Mulde im Boden einen Schmelzofen errichtet: Lehmwände, umgeben von einer dickeren, äußeren Mauer aus Steinen und Schlamm, mit Bändern aus Schößlingen zusammengehalten. Der Ofen war schulterhoch, einen Schritt breit und verjüngte sich oben etwas, um die Hitze zu konzentrieren und die Wände gegen Risse zu schützen.
In diesem Ofen stellte Dhan Schmiedeeisen her, indem er abwechselnd Lagen von erbsen- bis nußgroßer Holzkohle und persischem Erz schichtete. Um den Ofen war ein Graben ausgehoben worden. Dhan saß mit den Füßen in diesem Graben am Rand und betätigte Blasebälge aus ganzen Ziegenhäuten, um genau berechnete Mengen Luft in die glühende Masse zu leiten. Im heißen Feuer wurde das Erz zu Tropfen einer Art metallischen Regens reduziert. Diese Teilchen setzten sich im Ofen und sammelten sich auf dem Boden zu einem tropfsteinartigen
Gemisch von Holzkohle, Schlacke und Eisen, das Vorblock genannt wurde.
phan hatte das Spundloch mit Lehm verschlossen, den er jetzt aufbrach, um den Vorblock herauszuziehen. Durch kräftiges Hämmern, das ein wiederholtes Erhitzen im Schmiedefeuer erforderte, wurde er geläutert. Das reduzierte Schmiedeeisen war von sehr guter Beschaffenheit.
Es sei jedoch noch weich, ließ Dhan Harsha übersetzen. Die quadratischen Barren des indischen Stahls, den die Elefanten von Kausambi hierher befördert hatten, waren dagegen sehr hart. Dhan schmolz mehrere von ihnen und löschte dann das Feuer. Nach dem Auskühlen war der Stahl äußerst spröde, er zerschlug ihn und häufte ihn auf Stücke des Schmiedeeisens.
Nun ließ der zwischen seinen Ambossen, Zangen und Hämmern schwitzende drahtige Inder seinen Bizeps wie eine Schlange spielen, während er das weiche und harte Metall verband. Er schweißte mit Hilfe des Feuers mehrere Lagen von Eisen und Stahl zusammen, hämmerte wie besessen, drehte und schnitt, überlappte, klappte das Blech zusammen und hämmerte immer wieder. Er mischte das Metall, wie ein Töpfer den Ton oder eine Frau das Brot knetet. Während Rob ihm zusah, wußte er, daß er die Vielfalt, die Varianten, die ein subtiles Können erforderten, das seit Generationen weitergegeben worden war, nie erlernen konnte; aber er begriff den Vorgang zum Teil, zumal er unzählige Fragen stellte.
Dhan schmiedete einen scimitar, einen Krummsäbel, und härtete die Waffe in mit Zitronenessig befeuchtetem Ruß, was eine säuregeätzte Klinge mit Wirbelmuster und bläulicher, rauchgrauer Farbe ergab. Aus Eisen allein wäre sie weich und stumpf gewesen, allein aus dem harten indischen Stahl dagegen zu spröde. Dieses Schwert hatte eine scharfe Schneide, die einen herabfallenden Faden in der Luft zerschneiden konnte, und es war eine geschmeidige Waffe. Die Schwerter, die Alä bei Dhan bestellt hatte, waren nicht für den Herrscher bestimmt. Es waren unverzierte Waffen für Soldaten, die bei einem künftigen Krieg eingesetzt werden sollten. Diese überlegenen Krummschwerter sollten den Persern den erforderlichen Vorteil sichern. »Der indische Stahl wird ihm innerhalb weniger Wochen ausgehen«,
bemerkte Harsha. Dennoch bot Dhan Rob an, ihm einen Dolch zu schmieden aus Dankbarkeit für alles, was der hakim für seine Familie und die mahouts getan hatte. Rob lehnte bedauernd ab, die Waffen seien zwar sehr schön, aber er wolle nicht mehr töten. Doch dann öffnete er seine Tasche und zeigte Dhan ein Skalpell, ein Paar Operationsmesser und zwei andere Messer, die für Amputationen verwendet wurden, eines mit einer gebogenen, dünnen und das andere mit einer breiten, gezahnten Klinge zum Durchsägen von Knochen. Dhan lächelte breit, so daß man seine vielen Zahnlücken sah, und nickte.
Eine Woche später überreichte er Rob Instrumente aus gemustertem Stahl, die die schärfste Schneide besaßen und sie behalten sollten wie kein anderes chirurgisches Instrument, das Rob je in der Hand gehalten hatte.
Diese Instrumente würden sein Leben überdauern. Sie waren ein fürstliches Geschenk, das ein großzügiges Gegengeschenk verlangte, aber Rob war zu überwältigt, um im Augenblick daran zu denken. Dhan sah die ungeheure Freude des hakim und war stolz auf sie. Da sie sich nicht mit Worten verständigen konnten, umarmten sie einander. Gemeinsam ölten sie die Stahlinstrumente ein und wickelten sie einzeln in Lappen. Dann steckte sie Rob in einen Lederbeutel. Er wollte gerade begeistert vom Haus des Paradieses wegreiten, als er auf eine zurückkehrende Jagdgesellschaft unter Führung des Schahs traf. In semer groben Jagdkleidung sah Alä
genauso aus wie damals, als Rob ihn vor Jahren zum erstenmal erblickt hatte. Rob zügelte sein Pferrd, verbeugte sich und hoffte, daß die Gesellschaft an ihm vorbeireiten würde, doch einen Augenblick später galoppierte Farhad heran. »Er wünscht, daß Ihr Euch ihm nähert.«
Der Stadthauptmann machte kehrt, und Rob folgte ihm zum Schah. »Ah, Dhimmi. Du mußt ein wenig mit mir reiten.« Alä winkte die ihn begleitenden Soldaten beiseite, und er und Rob ritten im Schritt zum Palast.
»Ich habe den Dienst, den du Persien erwiesen hast, noch nicht
belohnt.«
Rob war überrascht, denn er hatte angenommen, daß alle Belohnun-
gen für die Dienste während des Einfalls in Indien der Vergangenheit angehörten. Mehrere Offiziere waren wegen Tapferkeit befördert worden, und die Soldaten hatten Geld erhalten. Karim war vom Schah in der Öffentlichkeit so überschwenglich gelobt worden, daß der Marktklatsch lautete, er werde bald zu jeder Menge hervorragender Posten ernannt werden. Rob hatte nichts dagegen gehabt, daß man ihn übersehen hatte, und er war glücklich, weil der Überfall nun der Geschichte angehörte.
»Ich möchte dir noch einen calaat verleihen, der aus einem größeren Haus und einem ausgedehnten Gelände besteht, einem Besitz, der sich auch für eine königliche Unterhaltung eignet.« »Es bedarf keines calaat, Majestät.« Rob dankte dem Schah recht spröde für dessen Freigebigkeit. »Meine Teilnahme war nur ein geringer Ausdruck meiner ungeheuren Dankbarkeit Euch gegenüber.« Es wäre geziemender gewesen, wenn er von seiner Liebe zum Monarchen gesprochen hätte, aber das konnte er nicht, und Alä schien seine Worte nicht sehr zu beachten. »Trotzdem verdienst du eine Belohnung.«