Er gab ihr Abführmittel, versuchte es mit heißen Packungen und kalten Kompressen und erzählte an diesem Abend auch seiner Frau von dem Beduinenmädchen. Er ersuchte Mary, für sie zu beten. Mary belastete der Gedanke, daß ein so junges Mädchen an der Krankheit litt, die James Geikie Cullen befallen hatte. Er erinnerte sie auch an die Tatsache, daß ihr Vater in einem Grab im Ahmads wadi lag, das niemand besuchte.
Am nächsten Morgen ließ Rob das Beduinenmädchen zur Ader, gab ihr Drogen und Krauter, doch alles, was er auch versuchte, blieb erfolglos. Sie fieberte, ihre Augen wurden glasig, und sie welkte dahin wie ein vom Frost überraschtes Blatt. Am dritten Tag starb sie. Rob überdachte die Stationen ihres kurzen Lebens gewissenhaft. Sie war gesund gewesen, bis diese Reihe von schmerzhaften Anfällen sie getötet hatte. Eine zwölfjährige Jungfrau, die erst vor kurzem ihre erste Monatsblutung gehabt hatte. Was hatte sie mit jenem kleinen Knaben und Robs in den besten Jahren stehendem Schwiegervater gemein? Ihm fiel nichts auf. Doch alle drei waren auf genau die gleiche Weise ums Leben gekommen.
Der Bruch zwischen Alä und seinem Großwesir, dem Imam Qandras-seh, wurde bei der Audienz des Schahs überdeutlich. Der Imam saß
wie gewöhnlich auf dem kleineren Thron zu Aläs rechter Hand, aber er wandte sich mit so kalter Höflichkeit an den Schah, daß seine Einstellung allen Anwesenden klar wurde.
An diesem Abend saß Rob bei Ibn Sina, und sie spielten das Spiel des Schahs. Es war mehr eine Lektion als ein Kampf, wie ein Spiel zwischen einem Erwachsenen und einem Kind. »Menschen versammeln sich auf den Straßen und maidans, sie tuscheln miteinander«, berichtete Rob.
»Sie werden besorgt und unruhig, wenn die Priester Allahs mit dem Herrn des Hauses des Paradieses im Streit liegen, denn sie befürchten, daß dieser Streit die Welt vernichten wird.« Ibn Sina schlug mit seinem Reiter einen rukh. »Es wird vorbeigehen. Es geht immer vorbei, und jene, die Glück haben, überleben.«
Eine Zeitlang spielten sie schweigend, dann berichtete Rob Ibn Sina vom Tod des Beduinenmädchens. Er schilderte die Symptome und beschrieb die beiden anderen Fälle, die ihn quälten. Ibn Sina seufzte. Aber er hatte keine Erklärung für den Tod des Mädchens, sondern wechselte das Thema, indem er Neuigkeiten vom Hof erzählte. Eine königliche Expedition sollte nach Indien geschickt werden. Diesmal handelte es sich um keinen Überfall, sondern Kaufleute hatten Vollmachten vom Schah erhalten, indischen Stahl oder das Erz zu kaufen, aus dem man ihn schmolz, denn Dhan Vangalil besaß längst keine Vorräte mehr, um die gemusterten blauen Klingen zu schmieden, die Alä so hoch schätzte.
»Er hat ihnen aufgetragen, nicht ohne eine schwerbeladene Karawane mit Erz oder hartem Stahl zurückzukommen, und wenn sie bis ans Ende der Seidenstraße ziehen müßten.« »Was liegt am Ende der Seidenstraße?« fragte Rob. »Chung-Kuo. Ein gewaltiges Land.« »Und dahinter?«
Ibn Sina hob die Schultern. »Wasser. Meere.«
»Reisende haben mir erzählt, daß die Erde eine flache Scheibe und von Feuer umgeben ist, und daß man sich nur so weit vorwagen kann, daß man nicht ins Feuer fällt; das sei die Hölle.«
»Geschwafel von Reisenden«, wehrte Ibn Sina verächtlich ab. »Es ist nicht wahr. Ich habe gelesen, daß es außerhalb der bewohnten Erde nur Salz und Sand gibt wie in der Dasht-i-Kavir. Es steht auch geschrieben, daß ein großer Teil der Erde aus Eis besteht.« Er blickte Rob nachdenklich an. »Was befindet sich hinter Eurem Heimatland?« »England ist eine Insel. Dahinter liegt ein Ozean, und dann kommt Dänemark, das Land der Nordmenschen, aus dem unser König kam. Dahinter soll ein Land aus Eis liegen.«
»Und wenn man von Persien nach Norden reist, liegt jenseits von Ghazna das Land der Reußen - und dahinter erstreckt sich ein Land aus Eis. Ja, ich glaube, es ist wahr, daß ein großer Teil der Erde mit Eis bedeckt ist«, stellte Ibn Sina fest. »Aber es gibt keine feurige Hölle an den Rändern, denn vernunftbegabte Menschen haben immer gewußt, daß die Erde rund ist wie ein Pflaume. Ihr seid doch auf dem Meer gereist! Wenn man ein entgegenkommendes Schiff in der Ferne erblickt, sieht man zuerst die Mastspitze am Horizont und dann immer mehr von dem Schiff, weil es über die gerundete Oberfläche der Erde segelt.«
Er besiegte Rob, indem er seinem König eine Falle stellte, obwohl er geistesabwesend gewirkt hatte. Dann schickte er einen Diener um Scherbett und eine Schüssel Pistazien. »Erinnert Ihr Euch nicht an den Astronomen Ptolemaios?«
Rob lächelte; er hatte gerade so viel Astronomie studiert, um den Anforderungen der madrassa zu genügen. »Ein alter Grieche, der seine Schriften in Ägypten verfaßte.«
»So ist es. Er schrieb, daß die Erde rund ist. Sie hängt unter dem konkaven Firmament und ist das Zentrum des Universums. Um sie kreisen Sonne und Mond, so daß es zu Tag und Nacht kommt.«
»Diese Erdkugel, die auf ihrer Oberfläche Meer, Festland, Berge, Flüsse, Wälder, Wüsten und Eisflächen trägt -
ist sie hohl oder massiv?
Und wenn sie massiv ist, woraus besteht ihr Inneres?«
»Das können wir nicht wissen. Die Erde ist riesig, wie Ihr es erlebt habt, weil Ihr über ein großes Stück von ihr geritten und marschiert seid. Und wir sind nur winzige Menschen, die nicht tief genug graben können, um diese Frage zu beantworten.«
»Wenn Ihr aber imstande wäret, ms Innerste der Erde zu blicken - würdet Ihr es tun?«
»Selbstverständlich!«
»Ihr wäret aber imstande, in den menschlichen Körper zu blicken, doch Ihr tut es nicht.«
jbn Sinas Lächeln schwand. »Die Menschheit ist halb wild und muß nach festen Regeln leben. Wenn nicht, würden wir zu unserer tierischen Natur zurückkehren und zugrunde gehen. Eines unserer Gesetze verbietet die Verstümmelung von Toten, weil sie eines Tages vom Propheten aus ihren Gräbern wiedererweckt werden.«
»Warum leiden die Menschen an Unterleibsbeschwerden?« Ibn Sina zuckte mit den Achseln. »Öffnet den Bauch eines Schweines und studiert das Rätsel! Die Organe eines Schweines sind mit denen des Menschen identisch.«
»Seid Ihr dessen sicher, Meister?«
»Ja. So steht es seit Galens Zeiten geschrieben, dessen griechische Zeitgenossen ihm nicht erlaubten, Menschen aufzuschneiden. Die Juden und die Christen unterliegen dem gleichen Verbot. Alle Menschen teilen diesen Abscheu vor dem Sezieren.« Ibn Sina blickte ihn mit zärtlicher Besorgnis an. »Ihr habt viele Widerstände überwunden, um Medicus zu werden. Aber Ihr müßt Eure Tätigkeit innerhalb der Grenzen der religiösen Vorschriften und des allgemeinen Empfindens der Menschen ausüben. Wenn Ihr Euch nicht daran haltet, wird Euch ihre Macht vernichten.«
Als Rob nach Hause ritt, starrte er zum Himmel empor, bis die Lichtpunkte vor seinen Augen verschwammen.
Von den Sternen kannte er nur den Mond und den Saturn und einen glühenden Punkt, der vielleicht der Jupiter war, denn er leuchtete gleichmäßig inmitten der funkelnden Himmelskörper.
Ihm war klar, daß Ibn Sina kein Halbgott war. Der Arzt aller Ärzte war einfach ein alternder Gelehrter, der zwischen der Medizin und dem Glauben steckte, in dem er fromm erzogen worden war. Rob liebte den alten Mann gerade auch wegen seiner menschlichen Beschränkungen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, betrogen worden zu sein, wie ein kleiner Junge, der die Schwächen seines Vaters erkennt.
In der Jehuddijeh war er in Gedanken versunken, während er sein braunes Pferd versorgte. Mary und das Kind schliefen im Hause, er zog sich vorsichtig und leise aus, lag dann wach und dachte nach, wodurch die Unterleibskrankheit verursacht werden könnte. Mitten in der Nacht schreckte Mary plötzlich auf. Sie lief hinaus, wo
sie würgte und erbrach. Er folgte ihr. Weil er so viel an die Krankheit dachte, die ihren Vater hinweggerafft hatte, wußte er, daß das Erbrechen ein erstes Anzeichen war. Obwohl Mary abwehrte, untersuchte er sie, als sie ins Haus zurückkehrte, aber ihr Unterleib war weich, und sie hatte kein Fieber. Endlich kehrten sie ins Bett zurück.