Jussuf schüttelte den Kopf. »Die Bücher ihrer herrlichen Bibliothek gingen verloren, als die Legionen Julius Caesars siebenundvierzig Jahre vor der christlichen Zeitrechnung Alexandria plünderten. Die Römer vernichteten die meisten Schriften der Ärzte von Alexandria. Celsus sammelte die kümmerlichen Reste und nahm sie in >De medici-na< auf, um sie zu erhalten, aber er erwähnt nur kurz ein >akutes Leiden im Bereich des Dickdarms, das hauptsächlich in jenem Teil auftritt, in dem sich der Blinddarm befindet, und von einer hitzigen Entzündung und heftigen Schmerzen, besonders auf der rechten Seite, begleitet wird.«
Rob brummte enttäuscht. »Ich kenne das Zitat. Ibn Sina erwähnt es, wenn er unterrichtet.«
Jussuf hob die Schultern. »So seid Ihr nun trotz meines angestrengten Stöberns in der Vergangenheit genau dort, wo Ihr wart, als ich anfing.« Rob nickte düster. »Warum, meint Ihr, begann der einzige kurze Abschnitt in der Geschichte, in dem Ärzte Menschen öffnen durften, ausgerechnet mit den Griechen?«
»Sie hatten nicht den einen starken Gott, der ihnen untersagte, das Werk seiner Schöpfung zu entweihen. Statt dessen glaubten sie an diese vielen unzüchtigen, schwachen, sich zankenden Götter und Göttinnen.« Der Bibliothekar spuckte einen Mundvoll Dattelkerne in seine hohle Hand und lächelte freundlich. »Sie konnten sezieren, weil sie schließlich nur Barbaren waren, Hakim."
Zwei Ankömmlinge
Marys Schwangerschaft war so weit fortgeschritten, daß sie nicht mehr reiten konnte, daher ging sie zu Fuß, um die notwendigen Nahrungsmittel für ihre Familie einzukaufen. Dabei führte sie den Esel, der die Waren und Rob James trug. Der Kleine ritt in einem Gurt auf dem Rücken des Tieres. Wie gewöhnlich, wenn sie zum armenischen Markt ging, machte sie vor dem Ledergeschäft halt, um mit Prisca ein Scherbett und heißes Fladenbrot zu sich zu nehmen. Prisca freute sich immer, ihre frühere Herrin und das Kind zu sehen, das sie gestillt hatte, heute aber war sie besonders redselig. Mary hatte zwar versucht, Persisch zu lernen, aber sie verstand nur wenige Worte: »Fremder... von weit her... genau wie der hakim... wie Ihr.«
Am Abend ärgerte sich Mary, als sie ihrem Mann von dem Vorfall berichten wollte. Er wußte bereits, was Prisca versucht hatte ihr zu erzählen, denn die Neuigkeit hatte sich bis zum maristan herumgesprochen. »Ein Europäer ist in Isfahan eingetroffen.« »Aus welchem Land?« »Aus England. Ein Kaufmann.«
»Ein Engländer?« Sie starrte ihn verblüfft an. »Warum bist du nicht sofort zu ihm gegangen?« »Mary...«
»Aber das mußt du tun! Weißt du, wo er wohnt?« »Im armenischen Viertel, deshalb wußte Prisca auch von ihm.
Angeblich wollte er zunächst nur bei Christen wohnen«, Rob lächelte, »als er aber sah, in welch elenden Hütten die wenigen armenischen Christen hausen, hat er rasch von einem Moslem ein schöneres Haus gemietet.«
»Du mußt ihm eine Botschaft senden! Lade ihn ein, zum Abendessen zu uns zu kommen!« »Ich weiß nicht einmal, wie er heißt.«
»Was macht das schon aus! Miete einen Boten. Jeder im armenischen Viertel wird ihm sagen können, wo der Fremde wohnt. Rob! Wir werden Neuigkeiten erfahren!«
Der gefährliche Kontakt mit einem englischen Christen war das letzte, was Rob sich gegenwärtig wünschte.
Aber er wußte, daß er Mary
die Gelegenheit, von Ländern zu hören, die ihrem Herzen näher standen als Persien, bieten mußte. Deshalb setzte er sich hin und schrieb an den Engländer.
»Mein Name ist Bostock. Charles Rostock.«
Rob erinnerte sich sofort. Nachdem er als Lehrling des Baderchirurgen zum erstenmal nach London zurückgekehrt war, waren der Bader und er zwei Tage lang m Begleitung von Bostocks Packpferden geritten, die mit Salz aus den Bergwerken von Arundel beladen waren. Im Lager hatten sie jongliert, und der Kaufmann hatte Rob zwei Pence geschenkt, die er ausgeben sollte, wenn sie nach London kämen. »Jesse ben Benjamin. Arzt in diesem Ort.« »Eure Einladung war englisch geschrieben. Und Ihr sprecht meine Sprache.«
Rob konnte nur die Antwort geben, die er sich für Isfahan ausgedacht hatte: »Ich bin in Leeds aufgewachsen.« Er war eher belustigt als besorgt. Vierzehn Jahre waren vergangen. Der Welpe von damals hatte sich zu einem merkwürdigen Hund ausgewachsen, und es war kaum zu erwarten, daß Bostock einen Zusammenhang zwischen dem jonglierenden Baderjungen und dem ungewöhnlich großen jüdischen Medicus herstellen würde, der ihn in sein persisches Heim eingeladen hatte. »Und das ist meine Frau Mary, eine Schottin aus dem nördlichen Landesteil.« »Mistress.«
Marys bestes blaues Kleid paßte nicht mehr wegen ihres dicken Bauchs, und so trug sie ein loses schwarzes Gewand. Aber ihr frisch gewaschenes rotes Haar glänzte prachtvoll. Sie trug ein gesticktes Stirnband, daran ihr einziges Schmuckstück, eine kleine Häkelarbeit aus Staubperlen, die zwischen ihren Brauen hing. Bostock hatte noch sein langes, mit Bändern zurückgehaltenes Haar, das aber jetzt mehr grau als blond war. Das schöne, rotbestickte Samtgewand, das er trug, war zu warm für das Klima und zu kostbar für den Anlaß. Rob hatte noch nie so scharf abschätzende Augen erlebt, die so sichtlich den Wert jedes Tieres, des Hauses, ihrer Kleidung, jedes einzelnen Möbelstückes taxierten und mit einer Mischung aus Neugierde und Widerwillen den dunkelhäutigen, bärtigen
luden, die keltische, rothaarige, hochschwangere Frau und das schlafende Kind musterten, das ein weiterer Beweis für die verwerfliche Verbindung dieses seltsamen Paares war.
Trotz seiner unverhohlenen Ablehnung sehnte sich der Besucher ebenso danach, englische Worte zu hören, wie sie, und bald waren die drei in ein Gespräch vertieft, bei dem Rob und Mary nicht umhinkonnten, Fragen zu stellen. »Habt Ihr Nachrichten über Schottland?«
»Waren die Zeiten gut oder schlecht, als Ihr London verlassen habt?« »Herrschte dort Frieden?« »War Knut noch König?«
Bostock war genötigt, sich sein Abendessen sozusagen zu verdienen, obwohl seine letzten Neuigkeiten fast zwei Jahre alt waren. Er wußte nichts über das Land der Schotten, kaum etwas über den Norden Englands. Die Verhältnisse waren günstig geblieben, und London wuchs rasch. Jedes Jahr wurden neue Häuser gebaut, und es gab mehr Schiffe, als die Hafenanlagen an der Themse aufnehmen konnten. Zwei Monate vor Bostocks Abreise aus England war König Knut eines natürlichen Todes gestorben, und als der Kaufmann in Calais gelandet war, hatte er vom Tod Roberts L, des Herzogs der Normandie, gehört. »Jetzt herrschen Bastarde auf beiden Seiten des Kanals. In der Normandie ist Roberts unehelicher Sohn Wilhelm mit Hilfe von Freunden und Verwandten seines Vaters Herzog der Normandie geworden, obwohl er noch ein Knabe ist. In England hätte die Nachfolge rechtmäßig Harthacnut gehört, dem Sohn Knuts und der Königin Emma, aber Harthacnut hat seit Jahren in Dänemark ein Leben fern von Britannien geführt, und so wurde der Thron von seinem jüngeren Halbbruder Harold Harefoot usurpiert. Knut hatte ihn als seinen unehelichen Sohn von einer wenig bekannten Frau aus Northampton namens Aelfgifu anerkannt, jetzt ist er König von England.« »Wo sind Edward und Alfred, die beiden Prinzen, die Emma König Aethelred vor ihrer Heirat mit König Knut geboren hat?« »Sie leben unter dem Schutz von Herzog Wilhelm in der Normandie, und man kann annehmen, daß sie mit großer Anteilnahme über den Kanal blicken«, berichtete Bostock.