Er ging also in den Garten, blieb im Dunkeln stehen und lauschte den Geräuschen, die aus dem Haus drangen. Es war kühl und still; er dachte kurz an Vipern, die aus der Steinmauer krochen, und beschloß, sich nicht darum zu kümmern, aber schließlich fiel ihm ein, daß er sich um das Feuer kümmern mußte, also ging er wieder hinein, um nachzulegen.
Als er Mary ansah, waren ihre Knie weit gespreizt. »Jetzt werdet Ihr pressen«, befahl Nitka streng. »Arbeitet, meine Liebe. Arbeitet!«
Wie versteinert sah Rob den Scheitel des Neugeborenen zwischen den Schenkeln seiner Frau hervorkommen. Es erinnerte an den Kopf eines Mönchs mit einer nassen, roten Tonsur, und Rob flüchtete wieder in den Garten. Er blieb lange draußen, bis er ein dünnes Wimmern hörte, da kehrte er ins Zimmer zurück und sah das Kind.
»Wieder ein Junge«, verkündete Nitka fröhlich, während sie mit der Spitze ihres kleinen Fingers Schleimreste aus dem winzigen Mund entfernte. Die dicke, schleimige Nabelschnur sah im diesigen Licht des Morgengrauens blau aus.
»Es war viel leichter als das erste Mal«, meinte Mary. Nitka reinigte und tröstete sie und übergab Rob die Nachgeburt, um sie im Garten zu vergraben. Dann nahm die Hebamme die großzügige Bezahlung mit einem zufriedenen Nicken entgegen und ging nach Hause.
Als sie in ihrem Schlafzimmer allein waren, umarmten sie einander, dann verlangte Mary Wasser und taufte das Kind auf den Namen Thomas Scott Cole. Rob hob ihn hoch und untersuchte ihn: Er war ein wenig kleiner, als sein Bruder es gewesen war, aber kein Zwerg. Ein kräftiger, gesunder Knabe mit runden, braunen Augen und einem dunklen Haarbüschel das schon einen Schimmer vom roten Haar seiner Mutter aufwies. Rob kam aber zu dem Schluß, daß das Neugeborene durch die Augen und die Kopfform, durch den großen Mund und die langen, schmalen Finger viel Ähnlichkeit mit seinen Brüdern William Stewart und Jonathan Carter zeige. Es sei immer leicht, sagte er zu Mary, einen kleinen Cole zu erkennen.
Die Diagnose
Qasim Ibn Sahdi war seit zwei Monaten Totenwäscher, als der Schmerz in seinem Unterleib wieder auflebte.
»Wie ist er?« fragte ihn Rob.
»Er ist schlimm, Hakim.«
»Ist es ein dumpfer oder stechender Schmerz?«
»Er ist, als würde ein djinni in mir an den Eingeweiden reißen, drehen und zerren.«
Er hatte kein Fieber wie beim ersten Anfall, der ihn zum maristan geführt hatte, und sein Unterleib war diesmal auch nicht hart. Rob verordnete die häufige Einnahme eines Aufgusses aus Honig und Wein, den Qasim eifrig trank, denn er war ein Trinker, und die erzwungene religiöse Abstinenz hatte er immer als schmerzlich empfunden.
Qasim verbrachte mehrere angenehme Wochen in leicht berauschtem Zustand, während denen er untätig im Krankenhaus herumging und Ansichten und Meinungen austauschte. Die letzte Neuigkeit war, daß Imam Qandrasseh trotz seines offensichtlichen politischen und taktischen Sieges über den Schah die Stadt verlassen habe. Es hieß, daß Qandrasseh zu den Seldschuken geflüchtet sei und mit einer Invasionsarmee zurückkehren werde, um Alä abzusetzen und einen streng islamischen Eiferer - vielleicht sich selbst? - auf den persischen Thron zu setzen.
Der Schah lebte im Haus des Paradieses wie in einem Versteck. Er hielt keine Audienzen ab, und seit Karims Hinrichtung hatte Rob nichts
mehr von ihm gehört. Rob wurde weder zu einer Lustbarkeit noch zur Jagd, noch zum Spiel oder zu Empfängen bei Hof eingeladen. Und wenn im Hause des Paradieses einmal anstelle des unpäßlichen Ibn Sina ein anderer Arzt gebraucht wurde, ließ man al-Juzjani kommen, aber niemals Rob.
Poch hatte der Schah ein Geschenk für den neuen Sohn geschickt. Es traf nach der hebräischen Namensgebung des Knaben ein. Diesmal wußte Rob Bescheid und lud die Nachbarn von sich aus ein. Das Kleine bekam in Wein getauchtes Brot, damit sein Schmerzgeschrei aufhörte, und auf hebräisch wurde erklärt, daß er Tarn, Sohn des Jesse, sei. Alä hatte kein Geschenk gesandt, als der kleine Rob James geboren wurde, doch nun schickte er einen schönen kleinen Teppich, hellblaue Wolle mit glänzenden Seidenfäden in der gleichen Farbe und mit dem Wappen der königlichen Samaniden-Familie in dunklerem Blau verziert.
Rob wurde in eine Prüfungskommission berufen. Er wußte, daß er Ibn Sina vertreten sollte, und er schämte sich, weil ihn jemand für anmaßend halten konnte, wenn er den Platz des Arztes aller Ärzte einnahm. Aber er konnte nichts daran ändern, also tat er sein Bestes. Er bereitete sich für die Kommission vor, als wäre er ein Prüfling und kein Prüfer. Er stellte durchdachte Fragen, die nicht darauf abzielten, den Kandidaten in Verlegenheit, sondern sein Wissen zum Vorschein zu bringen, und er hörte sich die Antworten aufmerksam an. Die Kommission prüfte vier Kandidaten, drei von ihnen ernannte sie zu Ärzten. Der vierte war ein unangenehmer Fall. Gabri Beidhawi war seit fünf Jahren Medizinstudent. Er hatte schon zwei Prüfungen nicht bestanden, aber sein Vater war ein reicher, mächtiger Mann.
Rob hatte zusammen mit Beidhawi studiert und wußte, daß er ein fauler Taugenichts war, der die Kranken nachlässig und gleichgültig behandelte. Auch auf die dritte Prüfung hatte er sich schlecht vorbereitet. Rob wußte, wie sich Ibn Sina verhalten hätte. »Ich lehne den Kandidaten ab«, erklärte er entschieden und mit wenig Bedauern. Die anderen Prüfer stimmten ihm hastig zu, und die Sitzung wurde geschlossen. Einige Tage nach der Prüfung kam Ibn Sina wieder in den maristan. »Willkommen im Krankenhaus, Meister!« rief Rob erfreut. Ibn Sina schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht zurück.« Er wirkte
müde und abgespannt und eröffnete Rob, daß er zu einer Untersuchung gekommen sei, die al-Juzjani und er durchführen sollten. Sie saßen im Untersuchungsraum mit ihm beisammen und stellten seine Krankengeschichte zusammen, wie er es sie gelehrt hatte. Er war daheim gewesen und hatte gehofft, seine Pflichten bald wieder aufnehmen zu können. Aber er hatte sich von dem doppelten Verlust, dem Abschied von Reza und dann von Despina, nicht erholt. Er sah immer schlechter aus und fühlte sich immer schlechter. Er war matt und schwach und kaum noch imstande, die einfachsten Aufgaben durchzuführen. Zuerst hatte er seine Symptome einer akuten Melancholie zugeschrieben. »Wir wissen ja alle genau, daß der Geist dem Körper schrecklichen, seltsamen Schaden zufügen kann.« Aber in letzter Zeit hatte sich sein Darm explosionsartig entleert, und der Stuhl war mit Schleim, Eiter und Blut vermengt. Das war der Grund, weshalb er diese ärztliche Untersuchung verlangte. Die beiden gingen so gründlich vor, als hätten sie nie wieder Gelegenheit, einen Menschen zu untersuchen. Sie übersahen nichts, und Ihn Sina ließ sie mit unendlicher Geduld drücken, klopfen, horchen und fragen.
Als sie fertig waren, sah al-Juzjani blaß aus, sein Gesicht aber verriet Zuversicht. »Es ist der blutige Ausfluß, Meister, verursacht durch die Belastungen Eures Gemüts.«
Robs Intuition wies dagegen in eine andere Richtung. Er sah seinen geliebten Lehrer an. »Ich glaube, es ist schirrt im Frühstadium.«
Ibn Sina blinzelte. »Darmkrebs?« fragte er so ruhig, als spräche er zu einem Patienten, den er noch nie gesehen hatte.
Rob nickte und versuchte, nicht an die langandauernden Qualen dieser Krankheit zu denken.
Al-Juzjani war rot vor Erregung, weil sein Urteil verworfen wurde, aber Ibn Sina beruhigte ihn. Deshalb hat er uns beide zugezogen, erkannte Rob, er hat gewußt, daß al-Juzjani vor lauter Liebe nicht imstande sein würde, die verhaßte Wahrheit zu erkennen. Robs Beine gaben nach. Er nahm Ibn Sinas Hände in die seinen, und sie blickten einander lange an. »Ihr seid noch stark, Meister. Ihr müsst Eure Gedärme offenhalten, um sie vor einer Stauung der schwarzen Galle zu schützen, die das Krebswachstum fördert.«