Es war Rob nicht mehr möglich, bei der Mahlzeit sitzen zu bleiben, sondern er gab vor, daß er sich nicht wohl fühle, und verließ die Versammlung. Tief erschüttert ritt er geradewegs zu seinem Haus in der Jehuddijeh. Rob James spielte draußen im Garten mit seiner Mutter. Der Säugling lag in der Wiege, und Rob hob Tarn hoch, um ihn zu betrachten.
Ein kleines Neugeborenes, dasselbe Kind, das er geliebt hatte, als er an diesem Morgen das Haus verlassen hatte.
Er legte den Knaben wieder in die Wiege, ging zu der Sandelholztruhe, nahm den vom Schah geschenkten Teppich heraus und breitete ihn neben der Wiege auf dem Boden aus.
Als er aufblickte, stand Mary im Türrahmen. Sie blickten einander an.
j)a wurde die Vermutung zur Gewißheit, und der Schmerz, aber auch das Mitleid, das er für sie empfand, zerrissen ihm das Herz.
Er trat zu ihr und wollte sie in die Arme schließen, doch seine Hände umklammerten sie. Er versuchte zu sprechen, doch er brachte kein Wort heraus. Sie riß sich von ihm los und knetete ihre Oberarme.
»Deinetwegen sind wir noch hier. Meinetwegen sind wir noch am Leben«, sagte sie verächtlich. Die Traurigkeit in ihrem Blick hatte sich in Kälte, ins Gegenteil von Liebe, verwandelt.
Am Nachmittag zog sie aus dem gemeinsamen Zimmer aus. Sie kaufte einen schmalen Strohsack und legte ihn zwischen die Schlafstellen ihrer Kinder neben den Teppich des Samaniden-Fürsten.
Qasims Kammer
Er konnte diese Nacht nicht schlafen, fühlte sich wie behext, als wäre ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden, und er müßte einen weiten Weg durch die Luft zurücklegen. Es wäre nicht ungewöhnlich gewesen, wenn jemand in seiner Lage Mutter und Kind getötet hätte, aber er wußte, daß Tarn und Mary im Raum nebenan vor ihm sicher waren. Er wurde zwar von verrückten Gedanken geplagt, aber er war nicht verrückt.
Am Morgen stand er auf und ging in den maristan, wo auch nicht alles in Ordnung war. Vier Pfleger hatte Ibn Sina als Bahrenträger und zum Einsammeln der Verwundeten ins Heer übernommen, und al-Juzjani hatte noch keinen Ersatz gefunden, der seinen Anforderungen entsprach. Die im maristan verbliebenen Pfleger waren überarbeitet und mürrisch. Rob besuchte die Patienten und kam seinen ärztlichen Verpflichtungen ohne Hilfe nach. Manchmal reinigte er etwas, das ein Pfleger aus Zeitmangel versäumt hatte, oder er wusch ein fiebriges Gesicht oder holte Wasser, um einen trockenen, durstigen Mund anzufeuchten. Er stieß auf Qasim Ibn Sahdi, der bleich und stöhnend dalag; der
Boden neben ihm war von Erbrochenem beschmutzt. Qasim, dem übel geworden war, hatte seine Kammer neben dem Leichenhaus verlassen und von sich aus einen Platz als Kranker eingenommen weil er wußte, daß Rob ihn auf seinem Weg durch den maristan finden würde. Er hatte in der letzten Woche mehrere Anfälle gehabt.
»Warum habt Ihr es mir nicht gemeldet?«
»Herr, ich hatte meinen Wein. Ich habe ihn getrunken, und der Schmerz verging. Doch jetzt hilft der Wein auch nicht mehr, Hakim, und ich kann den Schmerz kaum ertragen.«
Seine Stirn fühlte sich fiebrig an, aber nicht brennend heiß, und sein Unterleib war wohl empfindlich, aber weich. Manchmal keuchte er vor Schmerzen wie ein Hund, seine Zunge war belegt, und sein Atem roch übel.
»Ich werde Euch einen Trunk zubereiten.« »Allah wird Euch dafür segnen, Herr!«
Rob ging sofort zur Apotheke. Er mischte Betäubungsmittel und buing in den Rotwein, den Qasim so liebte, dann eilte er zu seinem Patienten zurück. Die Augen des alten Hüters des Leichenhauses waren von ängstlicher Ahnung erfüllt, als er das Gebräu trank. Als Rob den maristan verließ, sah er, daß die ganze Stadt auf den Beinen war, um die Soldaten zu verabschieden. Er folgte den Leuten auf die maidans, wo das Gedränge der Menge fürchterlich war, nicht weniger das Stimmengewirr.
Rob bekam Ibn Sina nicht zu Gesicht, dafür erschienen die königlichen Musikanten. Einige bliesen auf langen, goldenen Trompeten, andere schlugen Silberglöckchen und kündigten das Herannahen des großen Elefanten Aläs an. Der mahout war weiß gekleidet, und der Schah trug blaue Seide und einen roten Turban, das war seine Kriegskleidung.
Als er seine Hand königlich grüßend erhob, wußten die Menschen, daß ihnen damit Ghazna versprochen wurde.
Rob betrachtete den steif aufgerichteten Rücken des Schahs. In diesem Augenblick war Alä nicht Alä: Er war Xerxes, Darius und Cyrus der Große in einer
Person.
Wir sind vier Freunde. Wir sind vier Freunde. Rob schwindelte. Er dachte an die Gelegenheiten, bei denen es so leicht gewesen wäre, ihn zu töten. Er wandte sich ab, entfernte sich aus der Menge und ging mit leerem Blick, bis er zum Ufer des Zajandeh, des Flusses des Lebens, kam.
£r zog den massiven Goldring vom Finger, den ihm Alä für seine Verdienste in Indien geschenkt hatte, und warf ihn in das braune Wasser.
Während die Menge in der Ferne jubelte und schrie, ging er in den rriaristan zurück.
Qasim hatte eine große Dosis von dem Trunk erhalten, war aber offensichtlich sehr krank. Er zitterte, obwohl es ein warmer Tag war, und Rob zog eine Decke über ihn, die bald schweißdurchtränkt war. Als Rob Qasims Gesicht berührte, war es glühend heiß. Am späten Nachmittag wurden die Schmerzen so schlimm, daß der alte Mann aufschrie, als Rob seinen Unterleib berührte. Rob ging nicht nach Hause. Er blieb im maristan und kehrte oft an Qasims Lager zurück.
Am Abend trat mitten in Qasims Qualen plötzlich Erleichterung ein. Eine Zeitlang ging sein Atem ruhig und gleichmäßig; er schlief. Rob schöpfte schon Hoffnung, aber nach wenigen Stunden kam das Fieber wieder, sein Körper wurde immer heißer, sein Puls jagte und war zeitweise kaum überprüfbar. Rob ergriff seine Hände - und verlor den Mut. Er ließ sie nicht mehr los, denn nun konnte er Qasim nur noch seine Gegenwart und den geringen Trost einer menschlichen Berührung bieten. Qasims rasselnder Atem wurde immer langsamer und hörte dann ganz auf. Rob hielt noch immer die schwieligen Hände, als Qasim das Leben ausgehaucht hatte.
Er schob einen Arm unter die knotigen Knie und den anderen unter die nackten, knochigen Schultern und trug den Toten ins Leichenhaus. Dann betrat er die danebenliegende Kammer. Sie stank; er würde dafür sorgen müssen, daß sie gereinigt wurde. Er setzte sich zwischen Qasims spärliche Habseligkeiten.
Es war nach Mitternacht, und fast das ganze Krankenhaus schlief. Dann und wann schrie ein Patient auf oder weinte. Niemand sah Rob, als er Qasims armseligen Besitz aus dem kleinen Raum entfernte. Während er den Holztisch hineintrug, begegnete er einem Pfleger. Der aber nahm von ihm gar nicht Notiz. Er schaute weg und hastete an dem hakim vorbei, damit dieser ihm nicht noch mehr Arbeit aufbürden konnte.
In der Kammer legte Rob unter zwei Beine des Tisches ein Brett, so daß er schräg stand, und unter die niedrige Kante stellte er eine große Waschschüssel. Er brauchte genügend Licht und schlich im maristan herum, um sich vier Lampen und ein Dutzend Kerzen zu besorgen, die er um den Tisch anordnete, als wäre dieser ein Altar.
Dann holte er Qasim aus dem Leichenhaus und legte ihn auf den Tisch. Schon als Qasim im Sterben lag, hatte Rob gewußt, daß er das Verbot
brechen würde.
Doch nun war der Augenblick gekommen, und das Atmen fiel ihm schwer. Er war kein altägyptischer Einbalsamierer, der einen verachteten paraschisten herbeirufen konnte, damit dieser den Körper öffnete und die Sünde auf sich nahm. Er mußte die Tat und die Sünde, wenn es eine war, auf sich nehmen.
Er ergriff ein gebogenes chirurgisches Messer, ein sogenanntes Bistouri, machte einen Einschnitt und schlitzte den Bauch von der Leistengegend bis zum Brustbein auf. Das Fleisch leistete keinen Widerstand und begann leicht zu bluten.
Rob wußte nicht, wie er vorgehen sollte, und löste zuerst die Haut vom Brustbein. Dann verlor er den Mut. Er hatte in seinem ganzen Leben nur zwei unvergleichliche Freunde gehabt, und beide waren gestorben, weil man ihren Körper grausam verletzt hatte. Wenn er ertappt wurde, würde er auf die gleiche Weise sterben, aber er würde außerdem noch geschunden werden, die schlimmste Marter. Er verließ die kleine Kammer und schlich nervös durch das Krankenhaus. Doch die Menschen, die noch wach waren, beachteten ihn nicht. Er hatte das Gefühl, als habe sich der Boden unter ihm geöffnet, und er gehe auf Luft, doch nun glaubte er, tief in einen Abgrund zu blicken. Er holte eine Knochensäge mit kleinen Zähnen aus dem kleinen Operationsraum und sägte das Brustbein durch, indem er die Wunde nachahmte, die Mirdin in Indien davongetragen hatte. Am unteren Ende der Öffnung setzte er einen Schnitt von der Leistengegend zur Innenseite des Oberschenkels und erhielt so einen breiten, unförmigen Lappen, den er zurückschlagen konnte, womit er die Bauchhöhle bloßlegte. Unter der rosa Bauchhaut bestand die Bauchdecke aus rotem Fleisch und weißlichen Sehnensträngen, und sogar im Gewebe des mageren Qasim gab es gelbe Fettkügelchen. Der dünne Innenbelag der Bauchwand war wund und mit einer