geronnenen Substanz bedeckt. Zu Robs Verblüffung schienen die Organe gesund zu sein bis auf den Dünndarm, der gerötet und an vielen Stellen entzündet war. Selbst die kleinsten Gefäße waren so mit Blut gefüllt, daß sie aussahen, als wären sie voll roten Wachses. Ein kleiner, sackähnlicher Teil des Darmes war ungewöhnlich schwarz und haftete an der Bauchdecke. Als er versuchte, die beiden durch vorsichtiges Ziehen voneinander zu trennen, riß ein Häutchen, und zwei oder drei Löffelvoll Eiter kamen zum Vorschein. Das mußte die Infektion gewesen sein, die Qasim so starke Schmerzen bereitet hatte. Rob hegte den Verdacht, daß Qasims Qualen aufgehört hatten, als das kranke Gewebe aufgebrochen war. Eine dünne, dunkle und übelriechende Flüssigkeit hatte sich an der entzündeten Stelle in der Bauchhöhle angesammelt. Er tauchte die Fingerspitze hinein und roch neugierig daran, denn das konnte das Gift sein, das Fieber und Tod verursacht hatte.
Er wollte noch andere Organe untersuchen, hatte aber zuviel Angst. Also nähte er die Bauchdecke sorgfältig zu, damit Qasim Ibn Sahdi als ganzer Mensch aus dem Grab zum Leben erweckt werden konnte, falls die heiligen Männer recht hatten. Dann kreuzte er die Handgelenke, band sie zusammen und schlang ein großes Tuch um die Lenden des alten Mannes. Er wickelte den Toten sorgfältig in ein Leichentuch und trug ihn wieder ins Leichenhaus. Am Morgen würde er begraben werden.
»Ich danke Euch, Qasim«, flüsterte er ernst. »Ruhet in Frieden!« Er nahm eine Kerze in die Bäder des maristan mit, schrubbte sich sauber und wechselte seine Kleidung. Aber er hatte den Eindruck, daß der Geruch des Todes noch immer an ihm haftete, und besprühte deshalb seine Hände und Arme mit Parfüm.
Draußen in der Dunkelheit wollte die Furcht noch immer nicht von ihm weichen. Er konnte selbst nicht glauben, was er da gewagt hatte. Es dämmerte beinahe, als er sich auf sein Lager legte. Am Morgen schlief er noch tief, und Marys Gesicht verwandelte sich zu Stein, als sie glaubte, den Blumenduft einer anderen Frau einzuatmen, der ihr Haus verpestete.
Ibn Sinas Irrtum
Jussuf-al-Gamal zog Rob in das wissenschaftliche Dunkel der Bibliothek. »Ich möchte Euch einen Schatz zeigen.«
Es war ein dickes Buch, eine offensichtlich neue Kopie von Ibn Sinas Meisterwerk »Der Kanon der Medizin«.
»Dieses Exemplar ist eine von einem mir bekannten Schreiber angefertigte Abschrift des Originals aus dem Besitz des Hauses der Weisheit. Sie ist zu verkaufen.«
Rob ergriff das Buch. Es war mit viel Liebe angefertigt, die Buchstaben standen schwarz und klar auf jeder der elfenbeinfarbenen Seiten. Es war ein Kodex, ein Buch mit vielen Lagen, großen Stücken aus Pergament, die gefaltet und dann so geschnitten worden waren, daß jede Seite unbehindert umgeblättert werden konnte. Die Lagen waren zwischen zwei Deckeln aus weich gegerbtem Schafleder sorgfältig eingenäht. »Ist es teuer?« Jussuf nickte. »Wieviel?«
»Er will es für achtzig Silber-bestis verkaufen, weil er Geld braucht.« Rob schob die Unterlippe vor, weil er wußte, daß er nicht soviel Geld besaß. Mary verfügte noch über große Beträge, das Geld ihres Vaters, aber er und Mary waren nicht mehr... Rob schüttelte den Kopf.
Jussuf seufzte. »Ich hatte das Gefühl, daß es Euch gehören sollte.« »Wann muß es verkauft werden?«
Jussuf hob die Schultern. »Ich kann es noch zwei Wochen behalten.« »Also gut. Hebt es auf!«
Der Bibliothekar sah ihn zweifelnd an. »Werdet Ihr dann das Geld haben, Hakim?« »Wenn es Gottes Wille ist.«
Jussuf lächelte. »Ja, Imshallah.«
Er brachte an der Tür der Kammer neben dem Leichenhaus ein kräftiges Schließband und ein schweres Schloß an. Dann trug er einen zweiten Tisch hinein, dazu einen Wetzstahl, eine Gabel, ein kleines Messer, mehrere scharfe Skalpelle und einen Grabstichel, den die
Steinmetzen Meißel nennen, ein Zeichenbrett, Papier, Zeichenkohle und Graphitstifte, Lederriemen, Ton und Wachs, Federkiele und ein Tintenfaß.
Eines Tages nahm er mehrere kräftige Studenten zum Markt mit, und sie brachten mit einiger Mühe ein frisch geschlachtetes Schwein zurück. Niemand schien etwas daran zu finden, daß er es in dem kleinen Raum sezieren wollte.
In der darauffolgenden Nacht trug er allein die Leiche einer jungen Frau in die Kammer und legte sie auf den leeren Tisch. Sie war wenige Stunden zuvor gestorben und hatte Melia geheißen. Diesmal war er eifriger, und er hatte weniger Angst. Seiner Meinung nach hatte er Arzt werden dürfen, um zum Wohl von Gottes edelster Schöpfung zu wirken. Der Allmächtige würde es ihm bestimmt nicht übelnehmen, wenn er sein Wissen über ein so kompliziertes und interessantes Geschöpf erweiterte.
Er schnitt das Schwein und die Frau auf, weil er die Anatomien der beiden sorgfältig miteinander vergleichen wollte. Kaum hatte er seine doppelte Untersuchung an jener Körperstelle begonnen, an der die Seitenkrankheit ausbricht, hielt er schon inne. Der Blinddarm des Schweins, der beuteiförmige Schlauch, mit dem der Dickdarm begann, war stattlich, fast achtzehn Zoll lang. Der Blinddarm der Frau aber war winzig, nur zwei oder drei Zoll lang und nur so dick wie Robs kleiner Finger... Und siehe da! An diesem kleinen Schlauch hing noch etwas. Es sah aus wie ein kleiner rosa Wurm, den man im Garten entdeckt, aufgehoben und in den Bauch der Frau gesteckt hatte.
Das Schwein auf dem anderen Tisch wies keinen Wurmfortsatz auf, und Rob hatte an einem Schweinedarm auch noch nie einen ähnlichen Fortsatz bemerkt. Zuerst glaubte er, daß die geringe Größe des Blinddarms der Frau eine Anomalie und der wurmartige Fortsatz eine seltene Geschwulst oder eine andere Wucherung war. Er machte Melias Leiche ebenso sorgfältig für die Bestattung zurecht wie die Qasims und trug sie wieder ins Leichenhaus. Doch in den folgenden Nächten öffnete er die Leichen eines jungen Bürschchens, einer Frau mittleren Alters und eines sechs Wochen alten Knaben. In jedem Fall stellte er mit zunehmender Erregung fest, daß der gleiche winzige Wurmfortsatz vorhanden war. Dieser Wurm
war ein Teil jedes Menschen - ein winziger Beweis dafür, daß die Organe des Menschen nicht die gleichen waren wie die eines Schweines. O du verlogener Ihn Sma. »Du verlogener alter Mann«, flüsterte er.
»Du hast nicht recht!«
Trotz der Schriften des Celsus, trotz all dessen, was man tausend Jahre lang gelehrt hatte, war der Mensch einzigartig. Und wenn dem so war, wer wußte, wie viele wunderbare Geheimnisse entdeckt und gelöst werden konnten, indem man einfach in den Leichen von Menschen nachschaute?
Sein ganzes Leben lang war Rob allein und einsam gewesen, bis er Mary kennengelernt hatte. Und nun war er wieder einsam und konnte es nicht ertragen. Als er eines Nachts nach Hause kam, legte er sich neben sie zwischen die beiden schlafenden Kinder. Er traf keine Anstalten, sie zu berühren, doch sie wandte sich wie ein wildes Geschöpf um. Ihre Hand traf sein Gesicht mit einem brennenden Schlag. Sie war eine starke Frau und konnte einem durchaus Schmerz zufügen.