Er sezierte und untersuchte nur jene Teile des Körpers, die später vom Leichentuch bedeckt wurden. Das schloß die Füße und den Kopf aus, was ihn sehr unzufrieden machte, weil er sich nicht mehr damit abfinden mochte, das Gehirn eines Schweines zu untersuchen. Rob arbeitete geduldig. Er legte die Muskeln wie Draht und wie Seilstränge bloß und skizzierte sie. Manche begannen und endeten an einem Band, bei manchen waren die Muskelbänder flach, bei anderen rund, wieder andere hatten nur an einem Ende ein Band, und manche komplizierte Muskeln besaßen zwei Bänder, deren besonderer Wert offensichtlich darin bestand, daß im Falle einer Verletzung des einen das andere seine Aufgabe übernahm. Er fertigte Skizzen vom Aufbau, von der Form und Lage der Knochen und der Gelenke an, wobei er erkannte, daß solche anatomische Zeichnungen für die Behandlung von Verstauchungen und Brüchen von unschätzbarem Wert wären. Wenn er mit seiner Arbeit fertig war, hüllte er die Leichen ein, trug sie zurück und nahm seine Zeichnungen mit. Er hatte nicht mehr das Gefühl, in den gähnenden Abgrund seiner Verdammung zu blicken, aber ihm war immer bewußt, daß ihn ein schreckliches Ende erwartete, wenn er entdeckt wurde. Er hatte guten Grund für seine Furcht. Eines Morgens trug er den Körper einer älteren Frau, die erst vor kurzem gestorben war, aus dem Leichenhaus. Vor der Tür sah er
plötzlich einen Pfleger auf sich zukommen, der den Leichnam eines Mannes trug. Der Kopf der Frau baumelte, und ein Arm pendelte hin und her, als Rob stehenblieb und den Pfleger wortlos ansah, der höflich den Kopf beugte. »Soll ich Euch helfen, Hakimf'* »Sie ist nicht schwer.«
Er trat vor dem Pfleger ein, und sie legten die beiden Leichen nebeneinander, dann verließen sie gemeinsam das Leichenhaus. Das Schwein, das er sezierte, hatte innerhalb von nur vier Tagen einen Zustand der Zersetzung erreicht, der die Entfernung des Kadavers notwendig machte. Doch wenn er den menschlichen Magen und die Därme öffnete, setzte er viel 'schlimmere Gerüche frei als den unangenehm süßlichen Geruch von verwesendem Schweinefleisch. Trotz Seife und Wasser war der Raum von dem Geruch durchtränkt. Eines Morgens erstand er ein neues Schwein. Am selben Nachmittag ging er an Qasims Kammer vorbei und entdeckte den haäschi Davout Hosein, der an der versperrten Tür rüttelte. »Warum ist sie versperrt? Was ist da drinnen?« »Es ist der Raum, in dem ich ein Schwein seziere«, antwortete Rob ruhig.
Der stellvertretende Direktor der Schule blickte ihn angewidert an. In letzter Zeit betrachtete Davout Hosein alles mit äußerstem Mißtrauen, denn er hatte von den mullahs den Auftrag erhalten, im maristan und in der madrassa nach Verletzungen der islamischen Gesetze zu forschen.
Den ganzen Tag über bemerkte Rob Davout Hosein mehrmals in seiner Nähe. Am Abend ging er früh nach Hause. Als er am nächsten Morgen ins Krankenhaus kam, sah er, daß das Schloß an der Tür der Kammer aufgebrochen worden war. Drinnen lagen die Gegenstände da, wie er sie zurückgelassen hatte, aber nicht genauso. Das zugedeckte Schwein lag auf dem Tisch. Robs Instrumente waren durcheinandergebracht worden, doch es fehlte keines. Sie hatten nichts gefunden, dessen sie ihn bezichtigen konnten, und er konnte sich im Augenblick sicher fühlen. Aber die Einmischung führte zu unangenehmen Folgerungen: Er wußte, daß man ihn früher oder später überraschen würde. Doch angesichts der wichtigen Erkenntnisse und wunderbaren Zusammenhänge war er nicht bereit aufzuhören.
Er wartete zwei Tage, während der ihn der hadschi Hosein in Ruhe ließ. Dann war ein alter Mann im Krankenhaus gestorben, während Rob sich mit ihm unterhalten hatte. In dieser Nacht öffnete er den Körper, um zu sehen, was einen so friedlichen Tod bewirkt hatte, und stellte fest, daß die Arterie, die das Herz und die unteren Extremitäten versorgte, vertrocknet und zusammengeschrumpft wie ein welkes Blatt war. In der Leiche eines Kindes sah er, warum der Krebs so hieß, denn die gierige, bösartige Wucherung hatte ihre Klauen nach allen Richtungen ausgestreckt. In der Leiche eines anderen Mannes stellte er fest, daß die Leber nicht weich und satt rotbraun gefärbt war, sondern sich in ein gelbliches Organ von der Härte des Holzes verwandelt hatte. In der darauffolgenden Woche sezierte er eine seit mehreren Monaten schwangere Frau, und er skizzierte die Gebärmutter in dem sich wölbenden Bauch wie einen umgekehrten Trinkbecher, der das Leben umschloß, das sich in ihm entwickelte. In der Zeichnung verlieh er der Frau das Gesicht Despinas, die nun nie mehr ein Kind zur Welt bringen würde. Er nannte die Zeichnung »Die schwangere Frau«. Und eines Nachts saß er am Seziertisch und zeichnete einen jungen Mann, dem er Karims Züge gab; die Ähnlichkeit war unvollkommen, aber für jeden, der Karim geliebt hatte, erkennbar. Rob zeichnete seine Gestalt, als wäre die Haut aus Glas. Was er nicht selbst in dem Körper vor ihm auf dem Tisch sehen konnte, zeichnete er so, wie Galen es geschildert hatte. Er wußte, daß einige Details falsch waren, aber die Zeichnung war bemerkenswert, denn sie zeigte Organe und Blutgefäße, als blicke Gottes Auge durch das feste Fleisch des Menschen. Als die Zeichnung fertiggestellt war, signierte er sie triumphierend mit seinem Namen und dem Datum und nannte sie »Der durchsichtige Mann«.
Das Haus in Hamadhan
Während all dieser Zeit hatten sie keine Neuigkeiten vom Krieg erfahren. Und dann traf eines Nachmittags kurz vor dem vierten Gebet ein Reiter ein, der die schlimmste aller vorstellbaren Nachrichten brachte.
Wie al-Juzjani, als Masüd in Isfahan eine Marschpause einlegte, vermutet hatte, war dessen Hauptmacht schon auf die Perser gestoßen und griff sie an. Masüd hatte sein Heer unter den zwei ranghöchsten Generälen Sahl al-Hamdüni und Täsh Farräsh auf die ursprünglich erwartete Marschroute geschickt. Sie planten den Frontalangriff und führten ihn fehlerlos durch. Sie teilten ihre Streitkräfte in zwei Hälften, versteckten sich hinter dem Dorf al-Karaj und schickten die Späher aus. Als die Perser nahe genug herangekommen waren, schwenkte Sahl al-Hamdünis Truppe um eine Seite von al-Karaj herum, und Täsh Farräshs Leute kamen von der anderen Seite. Sie griffen Alä Shahan-shas Truppen mit zwei Flügeln an, die sich einander rasch näherten, bis das Heer von Ghazna sich entlang einer halbkreisförmigen Kampflinie wie ein Netz zusammengezogen hatte.
Nach der anfänglichen Überraschung kämpften die Pers.er mutig, aber sie waren zahlenmäßig unterlegen und ausmanövriert. Sie verloren ständig an Boden. Schließlich entdeckten sie, daß sich in ihrem Rücken eine weitere Truppe unter der Führung von Sultan Masüd näherte. Nun wurde der Kampf immer verzweifelter und wilder, und das Ende war unvermeidlich. Die überlegenen Streitkräfte der beiden Ghazna-Generäle standen den Persern gegenüber. Im Rücken hatten sie die zahlenmäßig kleinere, aber wilde Kavallerie des Sultans. Die Afghanen schlugen immer wieder zu und verschwanden, um an einem anderen Kampfabschnitt wieder aufzutauchen.
Als die Perser schließlich hinreichend geschwächt und demoralisiert waren, setzte Masüd unter dem Schutz eines Sandsturmes zum Totalangriff seiner drei Truppen an.