Rob erzählte den Leuten im »The Fox«, daß er sich jahrelang im Ausland aufgehalten und im ostfränkischen Königreich Medizin studiert habe.
Von Markham und anderen Gästen des »Fox« erfuhr Rob, was mit Englands Herrschergeschlecht geschehen war. Einen Teil der Geschichte hatte er ja schon von Bostock in Isfahan gehört. Jetzt vernahm er, daß sich Knuts Nachfolger Harold Harefoot als schwacher König erwiesen hatte. Harold hatte sich rasch zu Tode gegessen und getrunken, und Harthacnut, einer seiner Halbbrüder, war ihm nach der Rückkehr von einem Krieg in Dänemark auf dem Thron gefolgt. Harthacnut hatte nur zwei Jahre regiert, als er eines Tages bei einer Hochzeitsfeier tot umfiel, und so war endlich Edward an der Reihe gewesen. Inzwischen hatte dieser Godwins Tochter geheiratet, und auch er wurde von dem sächsischen Grafen beherrscht. Aber das Volk mochte ihn.
»Edward ist ein guter König«, versicherte George Mark-ham. »Er hat eine gehörige Flotte von schwarzen Schiffen gebaut.« Rob nickte. »Ich habe sie gesehen. Sind sie schnell?« »Schnell genug, um die Meeresstraßen von Seeräubern freizuhalten.« Die königlichen Geschichten, die mit Winshaustratsch und Erinnerungen ausgeschmückt wurden, sorgten für durstige Kehlen. Diese wollten geschmiert sein, und sie verlangten auch nach vielen Trinksprüchen auf die toten königlichen Brüder und vor allem auf den noch lebenden Edward, den Monarchen des Reiches. So vergaß Rob an etlichen Abenden, daß er keinen Alkohol vertrug, und er schwankte vom »Fox« zu dem Haus in der Thames Street. Mary fiel dann die undankbare Aufgabe zu, einen mürrischen Trunkenbold zu entkleiden und zu Bett zu bringen. Der traurige Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich.
»Liebster, laß uns von hier wegziehen«, bat sie ihn eines Tages. »Warum? Wohin sollen wir denn gehen?«
»Wir könnten in Kilmarnock leben. Dort liegt mein Besitz, und dort leben meine Verwandten, die sich freuen würden, meinen Mann und meine Söhne kennenzulernen.« »Wir müssen es mit London noch einmal probieren.«
Er war kein Narr und gelobte sich, enthaltsamer zu sein, wenn er »The Fox« aufsuchte, und auch weniger oft hinzugehen. Er verschwieg ihr aber, daß ihn mit London eine Vision verband, die Stadt war für ihn viel mehr als nur eine Gelegenheit, als »Blutegel« zu leben. Er hatte in Persien Erfahrungen gesammelt, die nun sein Eigentum waren, ein Wissen, das hier nicht bekannt war. Er sehnte sich nach dem Austausch medizinischer Erkenntnisse, den es in Isfa-han gegeben hatte. Dazu brauchte er aber ein Krankenhaus, und London schien ihm ein ausgezeichneter Standort für eine Einrichtung wie den maristan zu sein.
In diesem Jahr ging der lange, winterlich kalte Frühling in einen feuchten Sommer über. Jeden Morgen verbarg dichter Nebel das Hafenviertel. An den Tagen, an denen es nicht regnete, durchbrach am Vormittag die Sonne die graue Düsternis, und die Stadt erwachte sofort zu neuem Leben. Diesen Augenblick der Wiederkehr der Sonne nutzte Rob am liebsten zu einem Spaziergang, und an einem besonders freundlichen Tag löste sich der Nebel auf, als er an einem Handelskai vorbeikam, auf dem eine große Zahl Leibeigener Eisenbarren zur Verschiffung aufstapelte.
Der Fahrer eines Rollwagens trieb seine schmutzigen Schimmel zu weit und zu schnell rückwärts, so daß der schwere Wagen drohend gegen den Stapel prallte. Der oberste Eisenbarren setzte sich klirrend in Bewegung, hing einen Augenblick über dem Rand und glitt dann, gefolgt von zwei weiteren, herunter.
Jemand schrie warnend, die Leute stoben hastig auseinander, aber zwei Leibeigene wurden von anderen Menschen behindert. Sie stürzten, und ein Barren fiel mit seinem vollen Gewicht auf einen von ihnen, so daß er auf der Stelle tot war.
Das Ende eines anderen Barrens traf den rechten Unterschenkel des zweiten Mannes, und auf seinen Aufschrei hin griff Rob ein. »Hier, hebt den Barren herunter! Schnell und vorsichtig!« befahl er, und ein halbes Dutzend Leibeigener schafften den Eisenbarren weg. Der Verletzte schrie nicht mehr, als man ihn wegtrug, denn er hatte das Bewußtsein verloren. Das war auch besser so: Sein Fuß und Knöchel waren entsetzlich verstümmelt, und Rob sah keine Möglichkeit, die Gliedmaßen wiederherzustellen. Er schickte einen Leibeigenen in die Thames Street, damit er seine chirurgischen Instrumente von Mary holte. Während der Verwundete bewußtlos am Boden lag, machte er einen Einschnitt oberhalb der Verletzung und begann, die Haut abzuheben. Er stellte einen Lappen her, und dann durchtrennte er das Fleisch und den Muskel. »Was zum Teufel treibt Ihr da?«
Er blickte auf und bemühte sich, keine Miene zu verziehen, denn neben ihm stand ein Mann, den er zuletzt als Jesse ben Benjamin in seinem Haus in Persien gesehen hatte. »Ich behandle einen Mann.« »Aber es heißt, Ihr seid ein Medicus.« »Das ist richtig.«
»Ich bin Charles Bostock, Kaufmann und Importeur, Besitzer dieses Lagerhauses und dieses Docks. Und ich bin nicht so verrückt, verdämmt noch mal, daß ich einen Medicus zu einem Leibeigenen körn-men lasse!«
Rob zuckte mit den Achseln. Die Instrumente wurden gebracht, und er machte sich zur Amputation bereit. Er nahm die Knochensäge, schnitt den zerquetschten Fuß ab und nähte den Hautlappen sorgfältig über den Stumpf, aus dem Blut sickerte, so wie al-Juzjani es von ihm verlangt hätte.
Bostock war noch immer da. »Ihr habt meine Worte wohl nicht verstanden«, begann er wieder. »Ich bezahle Euch nichts. Ihr bekommt keinen halben Penny von mir.«
Rob nickte. Er klopfte dem Leibeigenen mit zwei Fingern leicht auf die Wange, und der Mann stöhnte auf. »Wer seid Ihr?«
»Robert Cole, Medicus aus der Thames Street.« »Kennen wir einander, Master?« »Meines Wissens nicht, Master Kaufmann.«
Er sammelte seine Instrumente ein, nickte und entfernte sich. Am Ende des Docks warf er einen Blick zurück.
Bostock sah Rob starr und zutiefst verdutzt nach, während dieser sich entfernte.
Er sagte sich, daß Bostock in Isfahan einen Juden mit Turban, buschigem Bart und in persischer Kleidung kennengelernt hatte: den orientalischen Jesse ben Benjamin. Und auf dem Dock hatte der Kaufmann mit Robert Jeremy Cole, einem freien Londoner Bürger in alltäglicher englischer Kleidung gesprochen, dessen Gesicht durch den kurzgeschnittenen Spitzbart gewiß verändert war.
Es war möglich, daß Bostock sich überhaupt nicht mehr an ihn erinnerte; und ebensogut war möglich, daß dies doch der Fall war. Rob kaute an der Frage herum wie ein Hund auf einem Knochen. Er hatte nicht so sehr Angst um seine Person - obwohl er natürlich Angst hatte —, sondern machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Frau und der Kinder, falls er wirklich Schwierigkeiten bekommen sollte. Und als Mary an diesem Abend wieder von Kilmarnock sprach, wurde ihm allmählich klar, was geschehen mußte.
»Ich würde liebend gern dorthin übersiedeln«, gestand sie. »Ich sehne mich danach, über eigenen Grund und Boden zu gehen und wieder unter Schotten und Verwandten zu leben.«
»Es gibt einige Angelegenheiten, die ich hier erledigen muß«, antwortete er langsam. Er ergriff ihre Hände.
»Aber ich glaube, daß ihr, du und die Kinder, ohne mich nach Kilmarnock fahren solltet.« «Ohne dich?« »Ja.«
Sie rührte sich nicht. Die Blässe ließ ihre hohen Backenknochen noch stärker hervortreten und warf Schatten in ihr schmales Gesicht, so daß ihre Augen größer schienen, während sie ihn betrachtete. Ihre sensiblen Mundwinkel, die immer ihre Gefühle verrieten, sagten ihm, wie unmöglich ihr dieser Vorschlag vorkam.
»Wenn du es unbedingt willst, werden wir fahren«, erklärte sie ruhig. In den nächsten Tagen überlegte er sich alles noch ein dutzendmal. Doch schrie niemand empört auf oder schlug Alarm. Es kamen auch keine Bewaffneten, um ihn zu verhaften. Er war Bostock zwar offenbar bekannt vorgekommen, der Kaufmann hatte ihn aber nicht als Jesse ben Benjamin erkannt. Fahre nicht! hätte er am liebsten zu Mary gesagt. Mehrmals war er beinahe soweit, doch immer hielt ihn etwas davon ab. Er trug die schwere Last der Angst mit sich herum, und es konnte nicht schaden, wenn sie und die Jungen eine Zeitlang in einem anderen Ort in Sicherheit waren.