Also sprachen sie wieder darüber. »Wenn du uns zum Hafen Dunbar
bringen könntest«, meinte sie.
»Warum nach Dunbar?«
»Die MacPhees leben dort, Verwandte der Cullens. Sie werden dafür sorgen, daß wir sicher in Kilmarnock ankommen.«
Dunbar, das war kein Problem. Im »The Fox« hörte Rob von einem Lastboot, das in Dunbar anlegte. Es hieß
»Aelfgifu« nach Harold Harefoots Mutter, und sein Kapitän war ein grauhaariger Däne, der sich freute, für drei Passagiere, die nicht viel essen würden, eine Menge Geld zu bekommen.
Die »Aelfgifu* würde in nicht einmal zwei Wochen auslaufen, deshalb mußte man eilig Vorbereitungen treffen, die Kleidung ausbessern, entscheiden, was mitgenommen wurde und was nicht. Plötzlich waren es nur noch wenige Tage bis zum Abschied.
»Ich folge euch nach Kilmarnock, sobald ich kann.«
»Wirklich?« fragte sie.
»Selbstverständlich.«
Am Abend vor der Abreise kam sie wieder darauf zurück. »Wenn du nicht kommen kannst...»
»Ich werde kommen.«
»Aber... wenn du doch nicht kommen kannst. Wenn das Schicksal uns irgendwie trennt, dann sollst du wissen, daß meine Verwandten die Jungen zu rechtschaffenen Männern erziehen werden.«
Sie berührten einander zart an allen vertrauten Körperstellen, wie zwei Blinde, die mit ihren Händen die Erinnerung festhaken wollen. Es war eine traurige Zärtlichkeit, als wäre es das letzte Mal. Danach weinte sie lautlos, und er hielt sie wonlos in seinen Armen. Es gab so vieles, was er sagen wollte, aber es fehlten ihm die Worte.
Im Morgengrauen brachte er die drei an Bord der »Aelfgifu«. Sie war nur sechzig Fuß lang und besaß ein offenes Deck. Der Mast war dreißig Fuß hoch, und das Segel war groß und quadratisch. Der Rumpf war aus dicken, überlappenden Eichenplanken gezimmert. Dank der schwarzen Schiffe des Königs würden die Seeräuber draußen auf offener See bleiben, und die »Aelfgifu« würde sich dicht an der Küste halten, um Fracht abzuliefern oder aufzunehmen, und beim ersten Anzeichen eines Sturms einen Hafen anlaufen. Es war die sicherste Form einer Reise zu Schiff.
Rob stand auf dem Dock. Marys Gesicht war unerschütterlich; sie hatte sich für die feindselige Welt gerüstet. Sie beugte sich hinunter und sagte etwas zu Rob James, als das Segel gehißt wurde. »Leb wohl, Pa!« schrie die dünne Stimme gehorsam, aber deutlich. »Gott sei mit euch!« rief Rob.
Das Lyceum
Am 9. November desselben Jahres wurde eine Frau namens Julia Swane zum Hauptgesprächsthema Londons, da sie als Hexe verhaftet wurde. Man warf ihr vor, ihre sechzehnjährige Tochter Glynna in ein fliegendes Pferd verwandelt und sie dann so brutal geritten zu haben, daß das Mädchen für immer verstümmelt blieb. »Wenn das wahr ist«, empörte sich Robs Hausherr Peter Lound, »ist es ein abscheuliches,
| verruchtes Verbrechen. Seinem eigenen Fleisch und Blut so etwas anzutun!«
Rob fehlten seine Kinder und ihre Mutter schmerzlich. Der erste Meeressturm kündigte sich über vier Wochen nach ihrer Abreise an. Doch zu diesem Zeitpunkt mußten sie längst in Dunbar gelandet sein. Er betete, daß sie, wo immer sie sich auch aufhalten mochten, an einem sicheren Ort das Abflauen der Stürme abwarten konnten.
Er wurde wieder zu einem einsamen Wanderer, der alle Viertel von London, die er von früher kannte, und die neuen Sehenswürdigkeiten, die seither entstanden waren, besuchte. Als er vor dem Schloß des Königs stand, das ihm einst als die Verkörperung königlicher Prachtentfaltung erschienen war, staunte er über den Unterschied zwischen dessen englischer Schlichtheit und der erhabenen Pracht des Hauses des Paradieses. König Edward hielt sich meist im Schloß von Winchester auf, doch eines Morgens wandelte er schweigend, nachdenklich und in sich gekehrt zwischen seinen Leibwächtern und Gefolgsleuten umher.
Vom Michaelitag an war dieser Herbst kalt, und es wehte ein scharfer Wind. Dann kam der warme und regnerische Winter. Rob dachte oft an seine Lieben und hätte gern gewußt, wann sie in Kilmarnock eingetroffen waren. Aus Einsamkeit verbrachte er so manchen Abend im »Fox«, versuchte aber, beim Trinken Maß zu halten, denn er wollte nicht in eine Rauferei verwickelt werden wie in seiner Jugend. Zur Adventszeit wurde ihm das Herz schwer, denn Weihnachten war ein Fest, das traditionellerweise im Kreise der Familie verbracht wurde.
Am Weihnachtstag nahm er seine Mahlzeit im »Fox« ein: Schweinssülze und eine Hammelpastete, die er mit einer gewaltigen Menge Met hinunterspülte. Auf dem Heimweg stieß er auf zwei Seeleute, die auf einen Mann einschlugen, dessen Lederhut im Straßenkot lag. Rob sah, daß er auch einen schwarzen Kaftan trug. Einer der Seeleute hielt die Arme des Juden hinter seinem Rücken fest, während der andere ihm Faustschläge versetzte, die jedesmal, wenn sie trafen, gräßlich klangen. »Aufhören, verdammte Kerle!«
Der Schläger unterbrach seine Beschäftigung. »Verschwindet, Master, solange ihr könnt!« »Was hat er getan?«
»Ein Verbrechen, das vor tausend Jahren verübt wurde, und jetzt schicken wir den stinkenden französischen Hebräer tot in die Nor-mandie zurück.« »Laßt ihn in Frieden!«
»Ihr liebt ihn wohl, dann wollen wir zuschauen, wie Ihr an seinem Schwanz lutscht.«
Der Alkohol erfüllte Rob immer mit wilder Aggression, und er war zum Kampf bereit. Seine Faust schmetterte in das plumpe, häßliche Gesicht. Der Komplize ließ den Juden los und rannte davon, während der Seemann, den Rob niedergeschlagen hatte, sich aufrappelte. »Bastard! Du wirst das Blut des Erlösers aus dem Becher dieses verdammten Juden trinken!«
Rob verfolgte sie nicht. Der Jude, ein großer Mann mittleren Alters, atmete schwer. Seine Nase blutete, und seine Lippen waren aufgeplatzt, aber er schien eher wegen der Demütigung als wegen der Schmerzen zu weinen.
»Hallo, was geht da vor?« fragte ein Neuankömmling, ein Mann mit krausem rotem Haar, einem Bart und einer großen, von bläulichen Adern durchzogenen Nase.
»Nichts Besonderes. Dieser Mann wurde überfallen.« »Hm. Seid Ihr sicher, daß nicht er der Angreifer war?«
»Ja.«
Der Jude hatte sich gefaßt und seine Stimme wiedergefunden. Es war klar, daß er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen wollte, aber er sprach in fließendem Französisch.
»Versteht Ihr diese Sprache?« fragte Rob den Rothaarigen, der verächtlich den Kopf schüttelte. Rob wollte mit dem Juden Hebräisch sprechen und ihm ein friedliches Lichterfest wünschen, wagte dies aber in Gegenwart eines Zeugen nicht. Dann hob der Jude seinen Hut auf. Er und der Zuschauer entfernten sich.
Ich bin nicht ohne Frau und Kinder hiergeblieben, um ein Trunkenbold zu werden, nahm er sich am nächsten Tag ernstlich vor, als sein Kopf wieder klar war. Er war entschlossen, sich um die Heilkunst zu kümmern, und suchte den Laden eines Kräuterhändlers an der unteren Thames Street auf, um seinen Vorrat an Arzneimitteln aufzufüllen, denn es war in London leichter, gewisse Krauter zu erstehen, als sie in der freien Natur zu suchen. Er kannte den Besitzer schon, einen gewissen Rolf Pollard, der ein tüchtiger Apotheker war. »Wie soll ich es anfangen, um Anschluß an andere Ärzte zu finden?« fragte ihn Rob.
»Ich würde das Lyceum vorschlagen, Master Cole. Dort halten die Ärzte der Stadt regelmäßig ein Treffen ab. Ich kenne die Einzelheiten nicht, aber Master Rufus kann Euch bestimmt Auskunft geben.« Er deutete auf einen Mann am anderen Ende des Raumes, der an einem Zweig von getrocknetem Portulak roch, um dessen Aroma zu prüfen. Pollard führte Rob zu ihm und stellte ihn als Aubrey Rufus, Medicus in der Fenchurch Street, vor. »Ich habe Master Cole vom Lyceum der Ärzte erzählt«, sagte er, »konnte mich aber an keine Einzelheiten erinnern.«