»Ach, tut gar nichts«, meinte Rufus. »Er kann sich offensichtlich nicht damit abfinden, die Thames Street mit Euch teilen zu müssen. Wir alle
wissen, daß Hunne seinem eigenen Großvater für einen Penny die Eier abschneiden würde. Niemand wird sein Geschwätz beachten.« Etwas beruhigt kehrte Rob in das Haus in der Thames Street zurück. Er beschloß, die Zweifel der Kollegen mit Gelehrsamkeit auszuräumen, und machte sich deshalb daran, den Vortrag über die Seitenkrankheit auszuarbeiten, als würde er ihn in der madrassa halten. Immerhin war er von Ibn Sina ausgebildet worden, und er wollte diesen Londoner Ärzten zeigen, wie eine medizinische Vorlesung aussehen kann.
Natürlich waren sie interessiert, denn jeder im Lyceum Anwesende hatte Patienten sterben sehen, die unter heftigen Schmerzen im rechten Teil des Unterbauches gelitten hatten. Aber sie reagierten auch höhnisch.
»Ein kleiner Wurm?« meinte ein schielender Arzt namens Sargent. »Ein kleiner rosa Wurm im Bauch?«
»Ein wurmähnlicher Fortsatz, Master«, verbesserte Rob steif. »Mit dem Blinddarm verbunden. Und eiternd.«
»Glens Zeichnungen zeigen keinen wurmähnlichen Fortsatz am Blinddarm«, behauptete Dryfield. »Celsus, Rhazes, Aristoteles, Dioscuri-des - wer von diesen Größen hat über einen Fortsatz geschrieben?« »Keiner. Was nicht bedeutet, daß es ihn nicht gibt.« »Habt Ihr ein Schwein seziert, Master Cole?« fragte Hunne. »Ja.«
»Dann wißt Ihr, daß die Eingeweide eines Schweines die gleichen sind wie die eines Menschen. Habt Ihr am Blinddarm eines Schweines jemals einen Fortsatz bemerkt?«
»Es war ein Schweinewürstchen, Master!« rief ein Witzbold, worauf allgemeines Gelächter einsetzte.
»Das Innere eines Schweines gleicht scheinbar dem eines Menschen«, erklärte Rob geduldig, »aber es gibt kleine Unterschiede. Einer davon ist der kleine Fortsatz am menschlichen Dünndarm.« Er rollte seine Zeichnung
»Der durchsichtige Mann« auf und befestigte sie mit Eisenstiften an der Wand. »Davon spreche ich. Der Fortsatz ist hier in einem frühen Stadium der Entzündung dargestellt.«
»Angenommen, das Unterleibsleiden wird genau so verursacht, wie Ihr es beschrieben habt«, sagte ein Arzt mit starkem dänischen Akzent. »Welche Behandlung schlagt Ihr vor?«
»Ich kenne keine Behandlung.« Mißbilligendes Murren ertönte.
»Was spielt es dann überhaupt für eine Rolle, ob wir den Ursprung der Krankheit kennen oder nicht?« Andere stimmten zu, und in ihrem eifrigen Bestreben, sich gegen den Neuankömmling zu stellen, vergaßen die anderen sogar, wie sehr sie die Dänen haßten. »Die Entwicklung der Medizin ist wie das langsame Errichten einer Mauer«, dozierte Rob. »Wir können von Glück reden, wenn wir im Lauf eines Lebens imstande sind, einen einzigen Ziegel zu legen. Wenn wir die Krankheit erklären können, wird vielleicht ein jetzt noch Ungeborener ihre Behandlung ersinnen.« Neuerliches Murren.
Sie drängten sich um den »durchsichtigen Mann« und studierten ihn. »Das habt Ihr gezeichnet, Master Cole?«
fragte Dryfield, der die Signatur bemerkte. »Ja.«
»Eine ausgezeichnete Arbeit«, lobte der Vorsitzende. »Was für ein Modell habt Ihr gehabt?« »Einen Mann, dessen Bauch aufgerissen war.« »Dann habt Ihr nur einen einzigen solchen Fortsatz gesehen?« hakte Hunne ein.
»Und zweifellos hat die allmächtige Stimme, die Euch berufen hat, Euch auch mitgeteilt, daß es den kleinen rosa Wurm in den Eingeweiden aller Menschen gibt.«
Es gab wieder Gelächter, und Rob reagierte verärgert. »Ich glaube, daß es den wurmartigen Fortsatz am Blinddarm bei allen Menschen gibt. Ich habe ihn bei mehr als einem Menschen gefunden.« »Bei... sagen wir vier?«
»Bei nicht weniger als einem halben Dutzend.« Sie starrten nun statt der Zeichnung ihn an.
»Ein halbes Dutzend, Master Cole? Wie seid Ihr dazu gekommen, in das Körperinnere von sechs Menschen zu sehen?« »Einige waren bei Unfällen aufgeschlitzt worden, andere bei Kämpfen. Sie waren nicht alle meine Patienten, und die Erfahrung eignete ich mir im Lauf der Jahre an.« Es klang sogar für seine Ohren unwahrscheinlich.
»Waren auch Frauen darunter?« fragte Dryfield. »Darunter waren auch Frauen«, gab er zögernd zu.
»Hmmmph«, machte der Vorsitzende, womit er andeuten wollte, daß er Rob für einen Lügner hielt.
»Hatten sich die Frauen denn duelliert?« fragte Hunne aalglatt, und diesmal lachte sogar Rufus. »Es ist schon ein Zufall, daß Ihr auf diese Weise in das Innere so vieler Leichen blicken konntet«, stellte Hunne fest, und als Rob das widerliche, schadenfrohe Licht in seinen Augen glitzern sah, wurde ihm endgültig klar, welch ein Fehler es gewesen war,
sich freiwillig zu einem Vortrag im Lyceum zu melden.
Julia Swane entging der Themse nicht. Am letzten Tag des Februar hatten sich mehr als zweitausend Menschen bei Tagesanbruch versam-melt, um jubelnd zuzusehen, wie sie zusammen mit einem Hahn, einer Schlange und einem Stein in einen Sack eingenäht und in die Untiefe bei St. Giles versenkt wurde.
Rob wohnte dem Ereignis nicht bei. Statt dessen ging er zu Bostocks Kai, um nach dem Leibeigenen zu sehen, dessen Fuß er amputiert hatte. Aber der Mann war nicht zu finden, und ein unfreundlicher Aufseher teilte ihm nur mit, daß der Leibeigene an einen anderen Ort gebracht worden sei. Rob machte sich Sorgen, da er wußte, daß das Leben eines Leibeigenen von seiner Arbeitsfähigkeit abhing. Er sah ein anderes dieser bedauernswerten Geschöpfe, dessen Rücken kreuz und quer von Peitschenwunden bedeckt war, die sich scheinbar in den Körper fraßen. Rob ging nach Hause und bereitete eine Salbe aus Ziegenfett, Schweinefett, Öl, Weihrauch und Kupferoxyd, dann kehrte er zum Kai zurück und strich sie auf das entzündete Fleisch des Leibeigenen. »Was soll denn das, zum Teufel?«
Ein Aufseher ging auf sie los, und obwohl Rob mit'dem Auftragen der Salbe noch nicht ganz fertig war, floh der Leibeigene. »Das ist Master Bostocks Kai. Weiß er, daß Ihr Euch hier herumtreibt ?« »Das spielt keine Rolle.«
Der Aufseher starrte ihn an, folgte ihm aber nicht, und Rob war froh, daß er Bostocks Kai ohne weitere Unannehmlichkeiten verlassen konnte.
Es war die Jahreszeit, in der viele Abführmittel gebraucht wurden, denn es hatte den ganzen Winter hindurch kein Gemüse gegeben. Rob stellte einen Aufguß aus Rhabarber her, den er in einer Woche restlos verbrauchte.
Die Erfahrung im Lyceum hatte in seinem Mund den
bitteren Geschmack von Asche hinterlassen. Am Montag zwang er sich trotzdem, dem Märztreffen als ein Zuschauer beizuwohnen, der den Mund hielt. Aber die Würfel waren schon gefallen, und er stellte fest, daß sie ihn für einen albernen Aufschneider hielten, dessen Phantasie mit ihm durchgegangen war. Einige lächelten spöttisch, als sie ihn sahen, während andere ihn nur kalt anblickten. Aubrey Rufus fordene ihn nicht auf, sich zu ihm zu setzen, sondern schaute weg, als ihre Blicke sich begegneten, und Rob setzte sich an einen Tisch zu Fremden, die ihn nicht in ihr Gespräch einbezogen. Der Vortrag handelte von Brüchen des Armes, Unterarmes und der Rippen sowie von Luxationen der Kinnlade, der Schulter und des Ellbogens. Er enthielt so viele Fehler in der Behandlung und in der Darstellung, daß er Jalal-al-Din, den Knocheneinrichter, in helle Wut versetzt hätte. Rob aber schwieg.
Sobald der Sprecher geendet hatte, wandte sich das Gespräch dem Ertränken der Hexe zu.
»Es werden noch andere erwischt werden, merkt Euch meine Worte«, meinte Sargent, »denn Hexen üben ihre verwerflichen Künste nie allein aus. Wenn wir Körper von Kranken untersuchen, müssen wir uns bemühen, das Teufelsmal zu entdecken und zu melden.« »Wir müssen dafür sorgen, daß wir über jeden Tadel erhaben sind«, meinte Dryfield nachdenklich, »denn viele halten Ärzte für etwas Ähnliches wie Hexer. Angeblich kann der Hexer-Arzt Kranke dazu bringen, Schaum vor dem Mund zu bekommen und steif zu werden wie ein Toter.«