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Er tröstete und behandelte Ardis. Als sie das Haus verlassen hatten, ergriff er die Hände seines Sohnes, damit Rob James die lebendige Stärke seines Vaters fühlen und sich beruhigen konnte. Er blickte in Rob James' Augen.

»Was du bei Ardis gespürt hast, und das Leben, das du jetzt in mir entdeckst - diese Dinge zu fühlen ist eine Gabe des Allmächtigen. Eine gute Gabe. Befürchte nicht, daß es etwas Böses ist!

Versuche jetzt nicht, es zu verstehen! Du wirst es später verstehen. Hab keine Angst!«

Die Farbe kehrte in das Gesicht seines Sohnes zurück. »Ja, Pa.«

Er stieg auf, half dem Jungen hinter sich aufs Pferd und ritt mit ihm nach Hause.

Ardis starb acht Tage später. Noch Monate danach kam Rob James weder in die Apotheke, noch begleitete er seinen Vater, wenn er

Krankenbesuche machte. Rob drängte ihn nicht. Auch für ein Kind mußte das Mitgefühl am Leiden der Welt eine freiwillige Entscheidung sein.

Rob James versuchte, gemeinsam mit Tam Schafe zu hüten. Als es ihn langweilte, ging er allein fort und pflückte stundenlang Krauter. Er wußte nicht recht, was er tun sollte. Doch er vertraute Rob vollkommen, und so kam der Tag, an dem Rob James seinem Vater nachlief, als dieser aus dem Hof ritt. »Pa! Darf ich dich begleiten?

Ich kann ja auf den Wallach achtgeben oder so.« Rob nickte und zog ihn hinter sich aufs Pferd. Bald begann Rob James, gelegentlich in die Apotheke zu kommen, und der Unterricht ging weiter. Als er neun Jahre alt war, wollte er auf seinen eigenen Wunsch hin seinem Vater jeden Tag als Lehrling assistieren.

Ein Jahr nachdem Jura Agnes zur Welt gekommen war, gebar Mary einen dritten Sohn, Nathanael Robertson.

Ein Jahr später hatte sie eine Totgeburt, einen Knaben, der vor seiner Bestattung auf den Namen Carrik Lyon Cole getauft wurde. Dann folgten zwei schwere Fehlgeburten nacheinander. Obwohl sie sich noch im gebärfähigen Alter befand, wurde sie nicht mehr schwanger. Es schmerzte sie, denn sie hatte ihm viele Kinder schenken wollen, aber Rob war erleichtert, weil sie allmählich ihre Kraft und ihren früheren Schwung wiedererlangte. Eines Tages, als ihr jüngstes Kind in seinem fünften Lebensjahr war, ritt ein Mann, der einen staubigen schwarzen Kaftan und einen glok-kenförmigen Lederhut trug und einen beladenen Esel mitführte, in Kilmarnock ein.

»Friede sei mit dir!« begrüßte ihn Rob auf hebräisch, und der Jude starrte ihn erstaunt an, als er seine eigene Sprache hörte, und antwortete:

»Auch dir Frieden!« Er war ein athletischer Mann mit einem großen, ungepflegten braunen Bart und einer wettergegerbten Haut. Die Linien um seinen Mund und die Fältchen in seinen Augenwinkeln verrieten seine Erschöpfung. Er hieß Dan ben Gamliel, war aus Rouen und weit von daheim entfernt.

Rob sorgte für seine Tiere, gab ihm Wasser, damit er sich waschen konnte, und setzte ihm dann koschere Speisen vor. Er stellte fest, daß er das Hebräische nur noch schlecht beherrschte, denn eine erstaunliche Anzahl von Wörtern war ihm entfallen. Doch über Brot und Wein konnte er den Segen sprechen. »Seid Ihr etwa Juden?«

fragte Dan ben Gamliel. »Nein, wir sind Christen.« »Warum tut Ihr das dann?«

»Wir haben eine große Schuld zu begleichen«, sagte Rob. Seine Kinder saßen am Tisch und starrten den Mann an, der keine Ähnlichkeit mit den Leuten hatte, die sie kannten, und sie hörten verwundert, wie ihr Vater gemeinsam mit ihm seltsame Segenssprüche murmelte, bevor sie aßen.

»Möchtet Ihr vielleicht nach dem Essen mit mir studieren?« In Rob stieg eine fast vergessene Erregung hoch.

»Vielleicht setzen wir uns zusammen und studieren die Gebote«, schlug er vor. Der Fremde sah ihn an. »Ich bedaure. Nein, ich kann nicht.« Dan ben Gamliels Gesicht war blaß. »Ich bin kein Gelehrter«, murmelte er. Rob verbarg seine Enttäuschung und führte den Reisenden zu einem guten Schlafplatz, wie er ihn in einem jüdischen Dorf erhalten hätte. Am nächsten Morgen stand er früh auf. Unter den Dingen, die er aus Persien mitgebracht hatte, fand er den Judenhut, den Gebetsschal und die Gebetsriemen. Er gesellte sich zu Dan ben Gamliel zum Morgengebet.

Der Jude staunte, als Rob sich den kleinen schwarzen Behälter um die Stirn band und die Lederriemen um seinen Arm schlang, um die Buchstaben zum Namen des Unaussprechlichen zu ordnen. Der Jude beobachtete, wie Rob vor und zurück schwankte, und lauschte seinen Gebeten.

»Ich weiß, was Ihr seid«, sagte er heiser. »Ihr wart Jude und seid abtrünnig geworden. Ein Mann, der unserem Volk und unserem Gott den Rücken gekehrt und seine Seele dem anderen Volk gegeben hat.«

»Nein, so ist es nicht«, widersprach Rob und sah mit Bedauern, daß er das Gebet des anderen unterbrochen hatte.

»Ich werde es Euch erklären, wenn Ihr fertig seid.« Damit entfernte er sich. Doch als er zurückkam, um den Mann zum Frühstück zu holen, war Dan ben Gamliel nicht mehr da. Das Pferd war fort, der Esel war fort, die schwere Last war allein aufgehoben und fortgeschleppt worden. Sein Gast war lieber geflohen, als sich der gefürchteten Ansteckung der Abtrünnigkeit auszusetzen.

Dan ben Gamliel war Robs letzter Jude gewesen; nie wieder sah er einen, noch sprach er je wieder ein Wort Hebräisch. Auch die Erinnerung an das Persische entglitt ihm langsam, und er beschloß eines Tages, den

»Kanon« Ibn Sinas ins Englische zu übersetzen, damit er den Arzt aller Ärzte zu Rate ziehen konnte. Er brauchte schrecklich lange dazu. Immer wieder sagte er sich, daß Ibn Sina den »Kanon der Medizin« in viel kürzerer Zeit verfaßt hatte, als er, Robert Cole, zum Übersetzen brauchte.

Manchmal bedauerte er wehmütig, daß er nicht alle Gebote der Juden wenigstens einmal studiert hatte. Oft dachte er an Jesse ben Benjamin, schloß aber immer mehr Frieden mit seiner Vergangenheit: Es war hart gewesen, ein Jude zu sein! Einmal, als Tarn und Rob James an dem Wettlauf teilnahmen, mit dem man jedes Jahr das Fest des heiligen Kolumb in den Hügeln feierte, erzählte er ihnen, daß ein Läufer namens Karim einmal einen langen, schweren Wettlauf, der chatir hieß, gewonnen habe. Und selten - für gewöhnlich, wenn er sich mit den prosaischen Aufgaben befaßte, die typisch für den gleichmäßigen Rhythmus des schottischen Alltags waren, wenn er den Pferch ausmistete, den angewehten Schnee wegschaufelte oder Brennholz hackte -roch er die abkühlende Hitze der Wüste bei Nacht, oder er erinnerte sich an Fara Askari, die Sabbatkerzen anzündete, oder an das zornige Trompeten eines in die Schlacht stürmenden Elefanten oder an das atemberaubende Gefühl, auf einem langbeinigen, schwankenden Rennkamel dahinzufliegen. Aber dann schien es ihm, als habe er schon immer in Kilmarnock gelebt, und alles, was vorher geschehen war, sei nur eine Geschichte, die man am Feuer erzählt, wenn der kalte Wind weht. Seine Kinder gediehen, wuchsen heran und veränderten sich, seine Frau wurde mit zunehmendem Alter noch schöner. Der besondere Sinn, das Feingefühl des Medicus, verließ ihn nie. Ob er nachts an ein einsames Bett gerufen wurde oder morgens in die überfüllte Apotheke eilte, er konnte immer die Leiden der Menschen fühlen. Er bemühte sich, dagegen anzukämpfen, empfand aber - wie schon am ersten Tag im maristan - doch immer staunende Dankbarkeit darüber, daß er es war, den Gottes Hand berührt hatte, und daß die Fähigkeit, den anderen zu helfen und zu dienen, einem Badergehilfen geschenkt worden war.

Danksagung

»Der Medicus« ist eine Geschichte, von deren Figuren nur eine Person, Ihn Sina, tatsächlich gelebt hat. Es gab zwar einen Schah Alä-al-Dawla, aber über diesen sind nur so wenige Fakten erhalten, daß die Figur dieses Namens aus einer Verschmelzung von verschiedenen Schahs hervorging.

Der maristan wurde nach Beschreibungen des mittelalterlichen Azudi-Krankenhauses in Bagdad geschildert.

Viel von der Atmosphäre und den Tatsachen des u.Jahrhunderts ist für immer verlorengegangen. Wo keine Aufzeichnungen existieren oder die Sachlage unklar war, habe ich bedenkenlos erfunden; das heißt, daß es sich hier um ein Werk der Phantasie und nicht um einen Ausschnitt aus der Geschichte handelt. Alle großen oder kleinen Irrtümer, die ich bei meinem Streben, Zeit und Ort getreulich nachzuzeichnen, begangen habe, gehen zu meinen Lasten. Doch dieser Roman hätte ohne die Hilfe etlicher Bibliotheken und Einzelpersonen nicht geschrieben werden können.