Die kleine, ländliche, aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk erbaute Kirche war überfüllt und daher warm. Rob hatte, seit er London verlassen hatte, keine Kirche mehr betreten. Er atmete den Geruch von Weihrauch und die Menschenausdünstungen sehnsüchtig ein und versenkte sich in die Messe an diesem vertrauten Zufluchtsort.
Später predigte der Priester, der wegen seines Dartmoor-Dialekts nur schwer zu verstehen war, von der Geburt des Erlösers und von seinem segensreichen Erdenwallen, das endete, als er von den Juden gekreuzigt wurde, und er sprach ausführlich von dem gefallenen Engel Luzifer, mit dem Jesus zur Verteidigung der Menschen ewig kämpft. Rob suchte nach einem Heiligen für ein besonderes Gebet, wandte sich aber schließlich an die reinste Seele, die er sich vorstellen konnte. Gib acht auf die anderen, bitte, Mo.! Mir geht es gut, aber hilf deinen jüngeren Kindern. Doch er konnte es nicht unterlassen, doch noch eine persönliche Bitte anzuschließen: Bitte, M
a, hilf mir, fünf Bälle zu jonglieren.
Von der Kirche gingen sie heim zu der gebratenen Gans, die sich auf des Baders Spieß drehte und mit Pflaumen und Zwiebeln gefüllt war. »Wenn ein Mann zu Weihnachten Gänsebraten isst, wird er das ganze Jahr hindurch Geld im Säckel haben«, behauptete der Bader. Editha lächelte. »Ich habe immer gehört, dass man zu Michaeli, am
29- September, Gänsebraten essen muss, wenn man zu Geld kommen will«, wendete sie ein, bestand aber nicht auf ihrer Ansicht, als der Bader behauptete, der Spruch gelte nur für Weihnachten. Er spendierte großzügig Alkohol, und die Mahlzeit verlief in vergnügter Stimmung.
Editha wollte nicht über Nacht bleiben, vielleicht weil ihre Gedanken anlässlich der Geburt Christi bei ihrem toten Mann und ihren Söhnen weilten; auch Rob wirkte geistesabwesend. Als sie nach Hause gegangen war, sah der Bader zu, wie Rob zusammenräumte. »Ich würde mein Herz nicht an Editha hängen«, riet ihm der Bader schließlich. »Sie ist nur eine Frau, und wir werden sie bald verlassen.«
Die Sonne kam nie hervor. Während der ersten drei Wochen im neuen Jahr bedrückte das ewige Grau des Himmels ihr Gemüt. Nun begann der Bader ihn anzutreiben, und er bestand darauf, dass er unaufhörlich übte, ganz gleich, wie jämmerlich es ihm immer wieder misslang. »Erinnerst du dich nicht daran, wie es war, als du versucht hast, mit drei Bällen zu jonglieren? Lange konntest du es nicht, dann gelang es dir auf einmal. Und beim Blasen des Sachsenhorns war es ebenso. Du darfst keine Möglichkeit auslassen, es mit fünf Bällen zu schaffen.«
Doch wie viele Stunden er auch darauf verwandte, das Ergebnis war immer das gleiche. Er ging schon mutlos an die Aufgabe heran, denn er wusste im voraus, dass er versagen würde.
Eines Nachts träumte er, dass Editha seinen Kopf wieder berührte, ihre dicken Schenkel öffnete und ihm ihre Punze zeigte. Als er erwachte, konnte er sich nicht mehr erinnern, wie sie aussah, doch während des Traumes war etwas Seltsames, Verstörendes passiert. Er wischte den Schleim vom Bärenfell, als der Bader außer Haus war, und rieb es mit feuchter Asche sauber.
Er war nicht so närrisch zu glauben, dass Editha auf ihn warten würde, bis er ein Mann war, um ihn dann heiraten zu können, doch er fand, dass es sie freuen würde, wenn sie einen Sohn bekam. »Der Bader wird wegziehen«, erwähnte er eines Morgens, während sie ihm half, das Brennholz hineinzutragen. »Könnte ich nicht in Exmouth bleiben und bei dir leben?« In ihre sanften Augen trat ein harter Ausdruck, doch sie schaute nicht weg. »Ich kann nicht für dich sorgen. Schon um mein Leben zu fristen, muss ich halb Näherin und halb Hure sein. Wenn ich dich auch noch auf dem Hals hätte, müsste ich mit jedem Kerl schlafen.« Ein Holzstück fiel aus dem Bündel in ihren Armen. Sie wartete, bis er es aufhob, dann drehte sie sich um und ging ins Haus.
Danach kam sie seltener und sprach nur gelegentlich mit ihm. Schließlich blieb sie ganz aus. Dem Bader fehlte sein Vergnügen, und er wurde reizbarer.
Plötzlich waren es nur noch wenige Wochen bis zum Frühlingsbeginn. Eines Nachts, als der Bader dachte, dass Rob schlief, zog er ihm das Bärenfell zurecht, so dass es warm und angenehm bis unters Kinn reichte. Er beugte sich über das Bett und blickte lang auf Rob hinunter. Dann seufzte er und entfernte sich.
Am Morgen holte er eine Peitsche aus dem Wagen. »Du denkst nicht an das, was du tust«, erklärte er. Er hatte nie das Pferd mit der Peitsche geschlagen, doch als Rob die Bälle fallen ließ, pfiff die Peitsche und schnitt ihm in die Beine. Es schmerzte furchtbar; Rob schrie auf und begann zu schluchzen. »Heb die Bälle auf!«
Er sammelte sie ein, warf sie mit dem gleichen erbärmlichen Ergebnis in die Höhe, und das Leder klatschte wieder um seine Beine. Er war von seinem Vater oft geschlagen worden, doch nie mit einer Peitsche. Immer wieder hob er die fünf Bälle auf und versuchte, mit ihnen zu jonglieren, brachte es aber nicht zustande. Jedes Mal, wenn es ihm misslang, schlang sich die Peitsche um seine Beine, und er schrie. »Heb die Bälle auf!« »Bitte, Bader!«
Das Gesicht des Mannes war unerbittlich. »Es ist zu deinem Besten. Benütze deinen Kopf! Denke!« Obwohl es ein kalter Tag war, schwitzte der Bader.
Vor Schmerzen gelang es Rob zwar, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, doch er bebte, weil er verzweifelt schluchzte, und seine Muskeln versagten ihm den Dienst. Seine Leistung war schlechter denn je. Er zitterte, Tränen nässten sein Gesicht, und der Rotz rann ihm in den Mund, während der Bader die Peitsche schwang. Ich bin ein Römer, sagte sich Rob. Wenn ich einmal erwachsen bin, werde ich diesen Mann aufspüren und umbringen.
Der Bader schlug ihn, bis Blut durch die Beine der neuen Hose drang, die Editha genäht hatte. Dann ließ er die Peitsche fallen und verließ das Haus.
Der Bader kehrte in dieser Nacht spät zurück und fiel betrunken ins Bett.
Als er am Morgen erwachte, waren seine Augen sanft, aber er schob die Lippen vor, als er Robs Beine betrachtete. Er wärmte Wasser und benützte einen Lappen, um sie von dem getrockneten Blut zu säubern, dann holte er einen Topf mit Bärenfett. »Reib es gut ein«, befahl er
ihm.
Das Bewusstsein, dass er seine Chance vertan hatte, schmerzte Rob mehr, als es die blutigen Striemen taten.
Der Bader zog seine Landkarten zu Rate. »Ich werde mich am Gründonnerstag auf den Weg machen und dich bis Bristol mitnehmen. Das ist eine blühende Hafenstadt, vielleicht kannst du dort Arbeit finden.«
»Ja, Bader«, flüsterte er.
Der Bader brauchte lange Zeit, um das Frühstück zuzubereiten, und als es fertig war, teilte er großzügig Haferbrei, Käsetoast, Eier und Speck aus. »Iß nur, iss!« murrte er.
Er setzte sich und sah zu, wie Rob das Essen hinunterwürgte. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich war selbst ein herumziehender Waisenjunge und weiß, dass das Leben hart sein kann.« Nur noch einmal wendete sich der Bader an diesem Morgen an ihn. »Du kannst die Klamotten behalten«, meinte er.
Die farbigen Bälle wurden weggeräumt, und Rob übte nicht mehr. Aber bis zum Gründonnerstag waren es noch fast vierzehn Tage, und der Bader ließ ihn hart arbeiten und befahl ihm, die Schieferböden in beiden Räumen zu schrubben. Jeden Frühling hatte Ma daheim auch die Wände gestrichen, und das tat er jetzt hier. Es gab zwar weniger Rauch in diesem Gebäude als zu Hause, aber diese Wände schienen zuvor nie gestrichen worden zu sein, und als er mit dieser Arbeit fertig war, sahen sie entschieden freundlicher aus.
Eines Nachmittags schien wie durch ein Wunder wieder die Sonne, das Meer glitzerte blau, und die salzhaltige Luft wurde weich. Zum
erstenmal konnte Rob verstehen, warum manche Leute Exmouth zu ihrem Wohnsitz wählten. In den Wäldern hinter dem Haus begannen kleine, grüne Triebe aus der feuchten, laubbedeckten Erde zu sprießen. Er pflückte einen Topf voll Farnschösslinge, und sie kochten das erste Grün mit Speck. Die Fischer hatten sich auf die ruhiger gewordene See hinausgewagt, und der Bader begegnete einem heimkehrenden Boot und kaufte einen schrecklich aussehenden Dorsch und ein halbes Dutzend Fischköpfe. Er ließ Rob gesalzenes Schweinefleisch in Würfel schneiden und briet das fette Fleisch langsam in der Pfanne, bis es knusprig war. Dann kochte er eine Suppe, in die er Fleisch und Fisch, aufgeschnittene Rüben, geschmolzenes Fett, dicke Milch und eine Spur Thymian rührte. Sie genossen das Mahl schweigend mit knusprigem, warmem Brot und wussten beide, dass Rob sehr bald keine solchen Mahlzeiten mehr essen würde.