In Buckingham zeigte ihm der Bader, wie man Zähne zieht, denn er stieß zufällig auf einen Viehtreiber mit verfaulten Zähnen. Der Patient war ebenso dick wie der Bader, ein Angsthase mit hervorquellenden Augen, der schrie wie eine Frau. Mittendrin überlegte er es sich. »Halt, halt, halt! Lasst mich los!« flüsterte er mit blutigem Mund, aber es war klar, dass die Zähne gezogen werden mussten, und sie machten weiter; es war für Rob eine ausgezeichnete Lektion.
In Clavering mietete der Bader die Schmiede für einen Tag, und Rob lernte, wie man eiserne Lanzetten und Punktiernadeln herstellte. Es war eine Arbeit, die er in den nächsten Jahren noch in einem halben Dutzend Schmieden in ganz England wiederholen musste, bis sein Meister davon überzeugt war, dass er sie beherrschte.
Die meisten Instrumente, die sie in Clavering herstellten, wollte der Bader nicht haben, er gestattete Rob jedoch widerwillig, eine kleine zweischneidige Lanzette als erstes Instrument eines eigenen Satzes chirurgischer Instrumente zu behalten: ein wichtiger Anfang. Während sie die Midlands verließen und in die Fens fuhren, lehrte ihn der Bader, welche Venen zum Aderlass geöffnet werden, wodurch er freilich traurige Erinnerungen an die letzten Lebenstage von Robs Vater heraufbeschwor. -n i
Manchmal stahl sich sein Vater in Robs Gedanken, denn seine Stimme begann so zu klingen wie die seines Erzeugers. Sie wurde tiefer, und er bekam Körperhaar. Es war noch nicht so dicht, wie es einmal werden würde, denn durch die Mitarbeit hinter dem Wandschirm war er mit dem Anblick unbekleideter Männer vertraut. Frauen blieben für ihn ein Mysterium, denn der Bader gebrauchte eine rätselhaft lächelnde, wollüstige Puppe, die sie Thelma nannten, auf deren nackter Gipsfigur weibliche Patienten sittsam die Körperstellen bezeichneten, wo ihr Leiden saß, so dass eine direkte Untersuchung nicht mehr nötig war. Es machte Rob zwar noch immer verlegen, in die Intimsphäre von Fremden einzudringen, doch er gewöhnte sich an die geschäftsmäßigen Fragen über gestörte Körperfunktionen. »Wann hattet Ihr Euren letzten Stuhl, Master?« »Mistress, wann ist Eure Monatsregel fällig?«
Auf des Baders Rat hin ergriff Rob die Hände eines Patienten, sobald er hinter den Wandschirm trat.
»Was fühlst du, wenn du ihre Finger angreifst?« fragte ihn der Bader eines Tages in Tisbury, als sie das Podium abbauten. »Manchmal fühle ich nichts.«
Der Bader nickte. Er nahm eine der Bänke von Rob entgegen, verstaute sie im Wagen und kam mit gerunzelter Stirn zurück. »Aber manchmal ... ist da etwas ?« Rob nickte.
»Was?« fragte der Bader aufgeregt. »Was fühlst du, Junge?« Doch er konnte es nicht erklären oder mit Worten beschreiben. Es war eine plötzliche Eingebung über die Lebenskraft des Kranken, als würde man in dunkle Brunnen blicken und fühlen, wieviel Leben in jedem enthalten ist.
Der Bader nahm Robs Schweigen als Beweis dafür, dass er seiner Sache nicht sicher war. »Wir werden nach Hereford zurückkehren und nachsehen, ob der alte Mann noch lebt«, meinte er mit schlauem Lächeln.
Er ärgerte sich, als Rob einverstanden war. »Wir können nicht zurückfahren, du Dummkopf!« schimpfte er.
»Wenn er nämlich tatsächlich gestorben ist, stecken wir unseren Kopf freiwillig in die Schlinge.« Er spottete weiterhin oft und laut über »die Gabe«. Doch als Rob die Hände der Patienten nicht mehr ergreifen wollte, befahl er ihm, es zu tun. »Warum nicht? Ich bin doch ein vorsichtiger Geschäftsmann. Und es kostet ja nichts, an diese Einbildung zu
glauben.«
In Peterborough, nur ein paar Meilen, aber ein Leben von der Abtei entfernt, aus der er als Junge geflohen war, saß der Bader einen ganzen langen, regnerischen Augustabend allein im Wirtshaus und trank
beständig und pausenlos.
Um Mitternacht suchte ihn sein Lehrling. Rob fand ihn, als er den Weg entlang schwankte, und stützte ihn auf dem Rückweg zu ihrem Lager.
»Bitte«, flüsterte der Bader ängstlich.
Rob wunderte sich, als der Betrunkene beide Hände hob und sie ihm entgegenstreckte.
»Ich bitte dich, um Christi willen«, wiederholte der Bader.
Endlich verstand ihn Rob. Er ergriff die beiden Hände und blickte ihm in die Augen. Einen Augenblick später nickte Rob.
Der Bader sank auf sein Bett. Er rülpste, drehte sich auf die Seite und verfiel in ruhigen Schlaf.
Im Norden
In diesem Jahr gelang es dem Bader nicht rechtzeitig, in das Winterquartier nach Exmouth zu kommen, denn sie waren zu spät aufgebrochen, und als die Herbstblätter fielen, befanden sie sich in dem Dorf Gate Fulford in den Wäldern von York. Die Heide stand voll in der Blüte und erfüllte die kühle Luft mit ihrem Duft. Rob und der Bader folgten dem Polarstern, machten in den Dörfern an ihrem Weg halt, um sehr gute Geschäfte zu machen, und fuhren mit dem Wagen über den endlosen Teppich aus purpurnem Heidekraut, bis sie die Stadt Carlisle erreichten.
»So hoch in den Norden bin ich noch nie gereist«, sagte der Bader. »Ein paar Stunden von hier ist Northumbria zu Ende, und wir kommen an die Grenze. Jenseits von ihr liegt Schottland, ein Land von Schaffickern, wie jeder weiß, und gefährlich für jeden anständigen Engländer.« Eine Woche lang lagerten sie in Carlisle und besuchten jeden Abend die
Kneipe. Hier erfuhr der Bader dank wohlüberlegt spendierter Drinks bald, wo es eine Unterkunft gab. Er mietete ein Haus auf der Heide mit drei kleinen Räumen. Es war ein ähnliches Haus wie das an der Südküste, aber zu seinem Missfallen besaß es keinen offenen Kamin und keinen gemauerten Schornstein. Sie breiteten ihr Bettzeug zu beiden Seiten des Herdes aus, als wäre er ein Lagerfeuer, und fanden in der Nähe einen Stall, wo sie Tatus unterbrachten. Auch diesmal kaufte der Bader reichliche Vorräte für den Winter ein und sparte dabei nicht, so dass Rob staunte und sich wohlfühlen konnte. Der Bader pökelte Rind- und Schweinefleisch ein. Er hatte auch daran gedacht, eine Rehkeule zu kaufen, aber drei Jäger, die Wildbret verkauft hatten, waren im Sommer in Carlisle gehängt worden, weil sie Hirsche des Königs getötet hatten, die für den Jagdsport der Adeligen bestimmt waren. Also kauften sie statt dessen fünfzehn fette Hennen und einen Sack Futter.
»Die Hühner fallen in deinen Aufgabenbereich«, erklärte der Bader Rob. »Du hast sie zu füttern, zu schlachten, wenn ich es anordne, zu rupfen und für meinen Topf herzurichten.« "*• Rob hatte jetzt braunen Flaum im Gesicht, ein Bart war es eigentlich noch nicht. Der Bader meinte, dass nur Dänen sich rasierten, aber Rob wusste, dass es gelogen war, denn sein Vater hatte keinen Bart getragen. Unter des Baders chirurgischen Geräten befand sich ein Rasiermesser, und der dicke Mann nickte widerwillig, als Rob es benützen wollte. Er schnitt sich zwar öfter, aber das Rasieren gab ihm das Gefühl, älter zu sein.
Als der Bader ihm das erste Mal befahl, ein Huhn zu schlachten, kam er sich dagegen sehr jung vor. Der Vogel starrte ihn aus kleinen, schwarzen Perlenaugen an, als wolle er sagen, dass sie vielleicht Freunde geworden wären. Schließlich zwang er sich, mit seinen kräftigen Fingern den warmen Hals zu umklammern, und schloss schaudernd die Augen. Ein heftig drehender Ruck, und es war geschehen. Aber der Vogel rächte sich noch im Tod, denn er gab seine Federn nicht leicht her. Rob rupfte stundenlang, und der Bader blickte den zerschundenen Körper verächtlich an, als Rob ihn ihm überreichte. Als das nächste Mal ein Huhn benötigt wurde, zeigte der Bader Rob ein echtes Zauberkunststück. Er hielt den Schnabel der Henne auf und schob ein dünnes Messer durch den Gaumen ins Gehirn. Die Henne
entspannte sich im Augenblick des Todes und gab ihre Federn frei; sie lösten sich schon beim leichtesten Ziehen in großen Büscheln. »Merk dir die Lehre«, sagte der Bader. »Es ist genauso leicht, einen Menschen zu töten, und ich habe es schon getan. Wesentlich schwieriger ist es, das Leben zu erhalten, noch schwieriger, die Gesundheit zu bewahren. Das sind die Aufgaben, die wir im Auge behalten müssen.« Das Wetter im Spätherbst war ideal für das Kräutersammeln, und sie durchstreiften die Wälder und Heideflächen. Der Bader suchte vor allem nach Portulak; wenn man ihn in Spezificum tauchte, gab es einen Wirkstoff frei, der das Fieber senkte und es verschwinden ließ. Zu seiner Enttäuschung suchte er umsonst. Anderes ließ sich leichter finden, zum Beispiel Blütenblätter wilder Rosen für Umschläge, und Thymian und Eicheln, die zerrieben, mit Fett vermischt und auf Pusteln im Nacken geschmiert wurden. Manche Heilmittel erforderten harte Arbeit, wie das Ausgraben von Eibenwurzeln, die schwangeren Frauen halfen, ihren Foetus nicht zu verlieren. Sie sammelten Zitronenkraut und Dill gegen Schwierigkeiten beim Harnlassen, Sumpfschwertlilien zur Bekämpfung des Gedächtnisschwundes infolge von nassen und kalten Körpersäften, Wacholderbeeren, die gekocht wurden, um verstopfte Nasengänge freizumachen. Lupinen für heiße Packungen, um Abszesse zum Reifen zu bringen, und Myrte sowie Käsepappel, um juckende Hautausschläge zu behandeln. »Du bist schneller gewachsen als das Unkraut«, bemerkte der Bader schmerzlich, aber es stimmte: Rob war schon fast so groß wie sein Meister und längst aus der Kleidung herausgewachsen, die Editha Lipton in Exmouth für ihn geschneidert hatte. Als der Bader ihn in Carlisle zu einem Schneider mitnahm, und »neue Winterkleidung, die eine Zeitlang passen muss« bestellte, schüttelte der Schneider den Kopf.