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Die Zunft beschloss eine Spende von zwei Pence für Almosen im Namen von Agnes Coles seligem Andenken und stellte Sargträger zur Verfügung, welche die Prozession zur Kirche anführten, dazu Totengräber, die das Grab ausschaufelten. In der St.-Botolphs-Kirche las ein Priester namens Kempton geistesabwesend die Messe und empfahl Ma Jesus. Die Angehörigen der Zunft rezitierten zwei Psalmodien für ihre Seele. Vor einer kleinen Eibe wurde sie im Kirchhof bestattet.

Als sie ins Haus zurückkehrten, hatten die Frauen das Totenmahl zubereitet, und die Leute aßen und tranken stundenlang; der Tod einer Nachbarin erlöste sie von ihrer kärglichen Kost. Die Witwe Hargreaves saß bei den Kindern, stopfte sie mit Leckerbissen voll und machte viel Aufhebens davon. Sie drückte sie an ihre schweren, duftenden Brüste, während sie sich wanden und litten. Als William übel wurde, führte ihn Rob hinter das Haus und hielt ihm den Kopf, solange er würgte und erbrach.

Rob begriff, was der Tod bedeutete, wartete aber dennoch ständig darauf, dass Ma nach Hause komme. Er wäre gar nicht so schrecklich überrascht gewesen, wenn sie die Tür geöffnet hätte und mit Lebensmitteln vom Markt oder Geld vom Exporteur in Southwark hereingekommen wäre.

Geschichtsstunde, Rob.

Welche drei germanischen Stämme sind während des fünften und sechsten Jahrhunderts n. Chr. in England eingefallen ? Die Angeln, die Juten und die Sachsen, Ma. Woher sind sie gekommen, mein Liebling?

Aus Germanien und Dänemark. Sie haben die Briten an der Ostküste besiegt und die Königreiche Northumbria, Mercia und Ost-Anglia gegründet. Wodurch wird mein Sohn so klug? Durch seine kluge Mutter.

Da hast du einen Kuss von deiner klugen Mutter. Und noch einen, weil du einen klugen Vater hast. Du darfst deinen klugen Vater nie vergessen...

Zu Robs großer Überraschung blieb sein Vater zu Hause. Nathanael schien mit den Kindern sprechen zu wollen, brachte es aber nicht fertig. Er verbrachte den Großteil seiner Zeit damit, das Strohdach zu erneuern. Ein paar Wochen nach dem Begräbnis, während die Betäubung langsam nachließ und Rob allmählich begriff, wie anders sein Leben verlaufen würde, bekam sein Vater endlich Arbeit. Der Lehm am Flussufer von London war braun und tief, ein weicher, zäher Schlamm, in dem Teredines genannte Schiffsbohrwürmer leben. Diese Pfahlwürmer hatten das Holz der Uferbefestigung übel zugerichtet, sich jahrhundertelang hineingebohrt und die Kais durchlöchert, so dass einige ersetzt werden mussten. Die Arbeit war schwer, ganz anders als das Errichten von schönen Häusern, aber angesichts der Schwierigkeiten nahm Nathanael sie gern an.

Die Verantwortung für das Haus fiel Rob zu, obwohl er ein schlechter Koch war. Della Hargreaves brachte oft Lebensmittel oder kochte eine Mahlzeit, meist, wenn Nathanael zu Hause war. Dann achtete sie auch darauf, gut zu duften und zu den Kindern freundlich und aufmerksam zu sein. Jonathan Carter und Anne Mary weinten ständig. William Stewart hatte keinen Appetit mehr, ein schmales Gesicht und große Augen, und Samuel Edward war frecher denn je und brachte Schimpfworte nach Hause, die er Rob mit solchem Vergnügen an den Kopf warf, dass der Ältere sich nicht anders zu helfen wusste, als ihn zu verprügeln.

Er versuchte, immer das zu tun, was er glaubte, das Ma getan hätte. Am Morgen, nachdem das Kleine seinen Brei bekommen hatte und die anderen Gerstenbrot gegessen und etwas getrunken hatten, säuberte er den Herd unter dem runden Rauchloch, durch das, wenn es regnete, Tropfen zischend ins Feuer fielen. Er trug die Asche hinter das Haus und kehrte dann die Böden. Er staubte die wenigen Möbel in allen drei Räumen ab. Dreimal in der Woche kaufte er in Billingsgate die Lebensmittel ein, die Ma bei ihrem einzigen wöchentlichen Marktbesuch nach Hause gebracht hatte. Viele Ladenbesitzer kannten ihn. Manche überreichten ihm für die Familie Cole zusammen mit ihren Beileidsbezeugungen ein kleines Geschenk, als er das erste Mal allein kam: ein paar Äpfel, ein Stück Käse, einen halben gepökelten Dorsch. Aber nach ein paar Wochen kehrte der Alltag ein, und er feilschte mit ihnen wilder als Ma, damit sie nicht auf den Gedanken kamen, ein Kind zu übervorteilen.

Dieses Jahr hatte Ma Samuel zur Schule schicken wollen. Sie hatte sich gegen Nathanael durchgesetzt und ihn dazu überredet, dass Rob bei den Mönchen von St. Botolph Unterricht nahm. Er war zwei Jahre lang täglich in die Klosterschule gegangen, bis er zu Hause bleiben musste, damit sie genügend Zeit fand zu sticken. Jetzt würde keiner von ihnen zur Schule gehen, denn sein Vater konnte weder lesen noch schreiben und fand, dass die Lernerei Zeitvergeudung war. Doch Rob fehlte die Schule sehr.

Eines Abends lobte ihn sein Vater, weil er so tüchtig war. »Du warst immer sehr reif für deine Jahre«, stellte Nathanael fast missbilligend fest. Sie sahen einander befangen an, da sie sich sonst nichts zu sagen hatten. Wenn Nathanael seine freie Zeit mit Huren verbrachte, wollte

Rob nichts davon wissen. Er hasste seinen Vater immer noch bei dem Gedanken daran, wie es Ma ergangen war, doch er wusste, dass Nathanael sich auf eine Weise abschuftete, die sie bewundert hätte. Seine Schwester und die Brüder hätte er bereitwillig der Witwe überlassen, und er beobachtete Della Hargreaves' Kommen und Gehen erwartungsvoll, denn die Anzüglichkeiten und Witze der Nachbarn hatten ihm verraten, dass sie seine Stiefmutter werden könnte. Sie war kinderlos, und ihr Mann war ein Zimmermann gewesen, den vor fünfzehn Monaten ein herabfallender Balken getötet hatte. Wenn eine Frau starb und kleine Kinder hinterließ, war es üblich, dass der Witwer bald wieder heiratete, und so wunderte sich niemand, als Nathanael begann, sich allein mit Della in ihrem Haus aufzuhalten. Aber solche Zwischenspiele waren begrenzt, weil Nathanael für gewöhnlich zu müde war. Er arbeitete in Nässe und Kälte, wenn sie während der Ebbe große Pfähle für Wälle tief in das Flussbett rammten. Wie die übrigen seiner Arbeitsgruppe zog er sich einen rauen, trockenen Husten zu und kam immer völlig erschöpft nach Hause. Aus der Tiefe des kalten Themseschlamms förderten sie Fundstücke der Geschichte ans Tageslicht: eine römische Ledersandale mit langen Knöchelriemen, einen zerbrochenen Speer, Scherben von Tongefäßen. Einmal brachte er einen bearbeiteten Feuersteinsplitter für Rob nach Hause; die Pfeilspitze war scharf wie ein Messer und in sechs Meter Tiefe gefunden worden.

»Ist sie römisch?« fragte Rob eifrig. Sein Vater hob die Schultern. »Vielleicht sächsisch.« Aber über den Ursprung der Münze, die ein paar Tage später gefunden wurde, gab es keinen Zweifel. Als Rob Asche befeuchtete und die Münze damit lange rieb, erschienen auf einer Seite der geschwärzten Scheibe die Worte PRIMA COHORS BRITANNIAE LONDONII. Sein Kirchenlatein reichte zum Entziffern kaum aus. »Vielleicht bezieht sich das auf die erste Kohorte, die in London stationiert war«, meinte er. Auf der anderen Seite befanden sich ein berittener Römer und die drei Buchstaben IOX.

»Was bedeutet IOX?« fragte sein Vater.

Er wusste es nicht. Ma hätte es sicher gewusst, aber er kannte sonst niemanden, den er hätte fragen können, und so legte er die Münze beiseite.

Sie hatten sich so sehr an Nathanaels Husten gewöhnt, dass sie ihn nicht mehr hörten. Als Rob eines Morgens den Herd reinigte, entstand vor dem Haus Unruhe. Nachdem er die Tür geöffnet hatte, sah er Harmon Whitelock aus der Arbeitsgruppe seines Vaters und zwei Unfreie, die er von den Schauerleuten requiriert hatte, um Nathanael nach Hause tragen zu lassen.

Die unfreien Knechte flößten Rob Entsetzen ein. Es gab verschiedene Möglichkeiten, durch die ein Mann seine Freiheit verlieren konnte: Ein Kriegsgefangener wurde der servus eines Kriegers, der ihm das Leben hätte nehmen können, ihn aber verschont hatte; freie Männer konnten wegen schwerer Verbrechen zur Knechtschaft verurteilt werden; ebenso Schuldner oder Leute, die außerstande waren, eine große Geldstrafe zu bezahlen. Frau und Kinder eines Mannes kamen mit ihm in die Knechtschaft, und ebenso künftige Generationen seiner Familie.