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Die Unfreien vor der Tür waren große, muskulöse Männer mit rasierten Köpfen, die sie äußerlich kennzeichneten, und zerlumpter Kleidung, die entsetzlich stank. Rob wusste nicht, ob sie gefangene Ausländer oder Engländer waren, denn sie sprachen kein Wort, sondern starrten ihn nur gleichmütig an. Nathanael war nicht klein, aber sie trugen ihn, als würde er nichts wiegen. Die Unfreien jagten Rob noch mehr Angst ein als die fahle Blässe im Gesicht seines Vaters oder die Art, wie Nathanaels Kopf kraftlos herabhing, als sie ihn hinlegten* »Was ist geschehen?«

Whitelock zuckte mit den Achseln. »Es ist ein Jammer. Die Hälfte von uns leidet daran, hustet und spuckt die ganze Zeit. Heute war er so schwach, dass er zusammenbrach, als die schwere Arbeit begann. Nach ein paar Tagen Ruhe wird er schon wieder auf dem Damm sein.« Am nächsten Morgen war Nathanael nicht imstande, das Bett zu verlassen; seine Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Frau Hargreaves brachte heißen Tee mit Honig und blieb bei ihm. Sie sprachen leise und vertraulich miteinander, und ein- oder zweimal lachte die Frau.

Doch als sie am nächsten Morgen kam, hatte Nathanael hohes Fieber, er konnte weder scherzen noch schmeicheln, und sie ging bald wieder. Seine Zunge und Kehle wurden grellrot, und er verlangte immer wieder zu trinken.

In der Nacht fieberte er, und einmal schrie er, dass die stinkenden Dänen in ihren Schiffen mit dem hohen Bug die Themse heraufsegel-ten. Seine Brust füllte sich mit zähem Schleim, den er nicht loswerden konnte, und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Als der Morgen kam, eilte Rob ins Nachbarhaus, um die Witwe zu holen, doch Della Hargreaves weigerte sich herüberzukommen. »Ich halte es für Soor. Das ist ansteckend«, wehrte sie ab und schloss die Tür.

Da Rob sonst niemanden haue, an den er sich wenden konnte, ging er wieder zum Zunfthaus. Richard Bukerei hörte ihm ernst zu, dann begleitete er ihn nach Hause, setzte sich für einige Zeit ans Fußende von Nathanaels Bett, bemerkte sein gerötetes Gesicht und hörte das Röcheln, wenn er atmete. Er wusste, was mit dieser Familie geschehen würde, wenn auch noch der Vater starb. Also eilte er davon und verwendete Geld der Zunft, um Thomas Ferraton, einen Medicus, zu holen.

An diesem Abend bekam Bukerei die scharfe Zunge seiner Frau zu spüren. »Einen Medicus? Gehört Nathanael Cole plötzlich zum Landoder gar zum Hochadel? Wenn ein gewöhnlicher Bader, der seine Arzneien selbst zubereitet, gut genug ist, um jeden Armen in London zu behandeln, warum braucht Nathanael Cole einen Arzt, der uns teuer zu stehen kommt?«

Bukerei konnte nur eine Entschuldigung murmeln, denn sie hatte recht. Nur Adelige und reiche Kaufleute leisteten sich die teuren Dienste eines Medicus. Gewöhnliche Menschen wandten sich an einen Bader, und manchmal zahlte ein Arbeiter einem Barbier einen halben Penny für einen Aderlass oder eine fragwürdige Behandlung. Bukerei hielt alle Heiler für verdammte Blutsauger, die mehr Schaden anrichteten als Gutes stifteten. Aber er wollte Cole jede nur mögliche Hilfe angedeihen lassen, und so hatte er in einem schwachen Augenblick den teuren Arzt geholt, dem er die schwerverdienten Beiträge ehrlicher Zimmerleute in den Rachen warf.

Der in eine reiche Familie hineingeborene Ferraton - sein Vater war der Wollhändler Johann Ferraton gewesen -

war bei einem Medicus namens Paul Willibald in die Lehre gegangen, dessen wohlhabende Familie feine Klingen erzeugte und verkaufte. Willibald hatte reiche Leute behandelt, und Ferraton hatte nach seiner Lehrzeit diese Praxis übernommen. Adelige Patienten waren zwar für den Sohn eines Kaufmanns unerreichbar, aber er fühlte sich den Wohlhabenden zugehörig; er teilte ihre Ansichten und Interessen. Er behandelte niemals wissentlich einen Patienten, der nur Arbeiter war, hatte vielmehr angenommen, dass Bukerei der Bote einer bedeutenden Persönlichkeit war. In Nathanael Cole erkannte er sofort einen seiner nicht würdigen Patienten, doch da er keine Szene machen wollte, beschloss er, die unangenehme Aufgabe möglichst schnell hinter sich zu bringen. Er berührte vorsichtig Nathanaels Stirn, schaute ihm in die Augen und roch an seinem Atem. »Es wird vorübergehen«, orakelte er.

»Was ist es?« fragte Bukerei, aber Ferraton antwortete nicht. Rob spürte instinktiv, dass der Doktor es nicht wusste. »Es ist die Halsbräune«, erklärte Ferraton endlich und zeigte auf weiße Eiterpünktchen im hochroten Rachen seines Patienten. »Eine eiternde Entzündung vorübergehender Art. Nicht mehr.« Er schnürte seine Aderpresse um Nathanaels Arm, stach geschickt mit einer Lanzette hinein und ließ ihn gründlich zur Ader. »Und wenn es nicht besser wird?« fragte Bukerei. Der Medicus runzelte die Stirn. Er würde dieses Armeleutehaus nicht wieder betreten. »Ich werde ihn am besten noch einmal zur Ader lassen, um ganz sicher zu gehen«, entschloss er sich und nahm sich den anderen Arm vor. Er ließ ein Fläschchen flüssiges Kalomel, gemischt mit verkohltem Schilfrohr, zurück und berechnete Bukerei den Besuch, die Aderlässe und die Medizin einzeln.

»Menschenmordender Blutsauger! Schlächter, Gentlemanschwanz«, murmelte Bukerei, der ihm nachstarrte. Der Zunftmeister versprach Rob, eine Frau zu schicken, die seinen Vater pflegen würde.

Der totenblasse, ausgeblutete Nathanael bewegte sich nicht. Ein paarmal verwechselte er den Jungen mit Agnes und versuchte, seine Hand zu ergreifen. Aber Rob erinnerte sich daran, wie sich sein Vater während der Krankheit seiner Mutter verhalten hatte, und zog ihm die Hand weg.

Später schämte er sich und kehrte ans Bett seines Vaters zurück. Er ergriff Nathanaels schwielige Hand, sah die hornigen, abgebrochenen Nägel, den eingefressenen Schmutz und die steifen, schwarzen Haare. Es war genauso wie beim ersten Mal. Er nahm ein Schwinden wahr gleich der Flamme einer Kerze, die herabgebrannt ist und flackert. Irgendwie wußte er, daß sein Vater im Sterben lag und daß der Tod sehr bald eintreten würde. Stummes Entsetzen erfaßte ihn genau wie damals, als seine Ma gestorben war.

Auf der anderen Seite des Bettes standen seine Brüder und die Schwester. Er war jung, aber sehr intelligent, und sofort übertönte eine praktische Überlegung seinen Schmerz und seine schreckliche Angst. Er schüttelte den Arm seines Vaters. »Was soll jetzt aus uns werden?« fragte er laut, doch niemand antwortete.

Die Aufteilung

Weil diesmal ein Zunftmitglied gestorben war und nicht nur eine Familienangehörige, zahlte die Zimmermannszunft fünfzig Psalmodien. Zwei Tage nach dem Begräbnis zog Della Hargreaves nach Ramsey, um bei ihrem Bruder zu wohnen. Richard Bukerei nahm Rob zu einem Gespräch beiseite.

»Wenn keine Verwandten da sind, müssen die Kinder und der Besitz aufgeteilt werden«, erklärte der Zunftmeister energisch. »Die Zunft wird für alles sorgen.«

Am Abend versuchte Rob, dies seinen Brüdern und seiner Schwester zu erklären. Nur Samuel durchschaute, wovon er sprach.

»Dann werden wir also getrennt?«

»Ja.«

»Jeder von uns wird bei einer anderen Familie leben?«

»Ja.«

In dieser Nacht kroch eines seiner Geschwister zu ihm ins Bett. Er hatte Willum oder Anne Mary erwartet, aber es war Samuel, der die Arme um ihn schlang und sich an ihn klammerte, als hätte er Angst zu fallen. »Ich will, dass sie wiederkommen, Rob.«

»Ich auch.« Er streichelte die knochige Schulter, die er oft verprügelt hatte. Eine Zeitlang weinten sie gemeinsam.

»Werden wir uns also nie mehr sehen?«

Ihm wurde kalt. »Ach Samuel, sei doch nicht so dumm! Wir werden bestimmt beide in der Gegend wohnen und uns immer wieder sehen. Wir bleiben ewig Brüder.«

Das tröstete Samuel, und er schlief ein wenig, aber vor Morgengrauen nässte er das Bett, als wäre er jünger als Jonathan. Am Morgen schämte er sich und konnte Rob nicht in die Augen schauen. Seine Angst war nicht unbegründet, denn er war der erste, der fortging. Die meisten Mitglieder der Zehnschaft ihres Vaters waren noch arbeitslos. Von den neun Zimmerleuten war nur ein Mann imstande und auch bereit, ein Kind in seine Familie aufzunehmen. Mit Samuel übersiedelten Nathanaels Hämmer und Sägen zu Turner Hörne, einem Zimmermannsmeister, der nur sechs Häuser weiter wohnte.