Zwei Tage später kam ein Priester namens Ranald Lovell in Begleitung von Pater Kempton, der die Messen für Ma und Pa gelesen hatte. Vater Lovell sagte, dass er nach Nordengland versetzt worden sei und ein Kind zu sich nehmen wolle. Er musterte alle und fand an William Gefallen. Er war ein großer, kräftiger Mann mit hellblondem Haar und grauen Augen, und Rob versuchte sich einzureden, dass die Augen freundlich waren.
Sein blasser, zitternder Bruder konnte nur nicken, als er den beiden Priestern aus dem Haus folgte. »Dann leb wohl, William!« sagte Rob.
Er überlegte, ob er nicht vielleicht wenigstens die beiden Kleinen behalten konnte. Aber er verteilte schon die Reste vom Totenmahl seines Vaters, und er war ein realistisch denkender Junge. Jonathan wurde mitsamt der Lederweste und dem Werkzeuggürtel seines Vaters einem Schreinergesellen namens Aylwyn übergeben, der zu der Hundertschaft Nathanaels gehörte. Als Frau Aylwyn kam, erklärte Rob, dass Jonathan zwar aufs Töpfchen gehe, aber noch Windeln brauche, wenn er Angst habe, und sie nahm die vom Waschen zerschlissenen Sachen und das Kind, lächelte, nickte und ging. Den kleinen Roger behielt vorerst die Amme, und sie bekam Agnes'
Stickmaterial. Richard Bukerei teilte Rob, der die Frau nie gesehen hatte, mit, dass der jüngste Bruder ihm zugesprochen worden sei. Am nächsten Tag nahmen der Bäcker Haverhill und seine Frau die besseren Möbelstücke mit, weil Anne Mary künftig über ihrem Pastetenladen wohnen sollte. Rob nahm sie an der Hand und brachte sie zu ihnen. Es hieß also: leb wohl, kleines Mädchen! »Ich liebe dich, meine Maid Anne Mary«, flüsterte er und drückte sie an sich. Aber sie schien ihn für alles verantwortlich zu machen, was geschehen war, und wollte sich nicht von ihm verabschieden.
Jetzt war nur noch Rob übrig, der nichts mehr besaß. Am Abend kam Bukerei zu ihm. Der Zunftmeister hatte getrunken, aber sein Kopf war klar. »Es wird vielleicht lang dauern, bis wir einen Platz für dich finden. Die schlechten Zeiten sind daran schuld, niemand hat Essen für einen Jungen, der den Appetit eines Erwachsenen hat, aber noch keine Männerarbeit leisten kann.« Nach brütendem Schweigen fuhr er fort: »Als ich jünger war, meinten alle, wenn wir nur wirklichen Frieden haben und König Aethelred los sind, den schlimmsten König, der jemals seine Zeitgenossen zugrundegerichtet hat, dann kommen wieder gute Zeiten. Und dann erfolgte eine Invasion nach der anderen: Sachsen, Dänen, alle möglichen verdammten Piraten. Jetzt haben wir endlich König Knut, einen starken, friedliebenden Monarchen, aber es ist, als hätte sich die Natur gegen uns verschworen.
Gewaltige Sommer- und Winterstürme richten uns zugrunde. Drei Jahre hintereinander hat es Missernten gegeben. Die Müller mahlen kein Korn, die Seeleute bleiben im Hafen. Niemand baut ein Haus, und die Handwerker sind arbeitslos. Es sind schwere Zeiten, mein Junge. Aber ich werde eine Stelle für dich finden, das verspreche ich dir.« »Danke, Zunftmeister.«
Bukereis dunkle Augen waren besorgt. »Ich habe dich beobachtet, Robert Cole. Ich habe einen Jungen gesehen, der für seine Familie gesorgt hat wie ein vollwertiger Mann. Ich würde dich in mein Haus aufnehmen, wenn mein Weib anders wäre.« Er blinzelte verlegen, als ihm klar wurde, dass der Alkohol seine Zunge stärker gelöst hatte, als ihm recht war, und er erhob sich schwankend. »Ich wünsche dir eine friedliche Nacht, Rob.« »Auch eine friedliche Nacht, Zunftmeister!«
Er wurde zum Einsiedler und die fast leeren Räume wurden zu seiner Höhle. Niemand lud ihn zum Essen ein.
Die Nachbarn konnten sein Vorhandensein nicht übersehen, aber sie unterstützten ihn nur widerwillig. Frau Haverhill kam am Morgen und gab ihm einen übriggebliebenen Laib Brot aus der Bäckerei, und Frau Bukerei erschien am Abend, brachte eine kleine Portion Käse, bemerkte seine geröteten Augen und tadelte ihn, weil nur Frauen weinen durften. Er holte Wasser vom öffentlichen Brunnen wie zuvor, und er hielt das Haus sauber, aber es war gar niemand da, der die ruhige, geplünderte
Behausung in Unordnung gebracht hätte, und so hatte er kaum etwas anderes zu tun, als sich Sorgen zu machen und Haltung zu bewahren. Einmal hörte er, wie sich Zunftmitglieder unterhielten. »Rob Cole wäre für jeden ein Gewinn. Jemand sollte ihn sich schnappen«, meinte Bukerei.
Er hörte schuldbewusst im geheimen mit, wie andere über ihn sprachen, als handle es sich um einen Fremden.
»Ja, sieh dir doch an, wie groß er ist! Er wird eine tüchtige Arbeitskraft sein, wenn er einmal erwachsen ist«, gab Hugh Tite widerwillig zu. Und wenn Tite ihn nahm? Rob erschreckte die Aussicht, mit Anthony in einem Haus zu leben. Deshalb war er beruhigt, als Hugh schnaubend fortfuhr: »Er wird erst in drei Jahren alt genug für die Zimmermannslehre sein und isst jetzt schon wie ein Scheunendrescher, während London voll von Burschen mit starken Rücken und leeren Bäuchen ist.« Die Männer gingen weiter.
Zwei Tage später büßte er hinter demselben Fenstervorhang bitter für den Frevel, dass er heimlich lauschte, als er zuhörte, wie Frau Bukerei mit Frau Haverhill über das Amt ihres Mannes sprach. »Alle sprechen von der Ehre, Zunftmeister zu sein. Es bringt kein Brot auf meinen Tisch. Ganz im Gegenteil, es bringt unangenehme Verpflichtungen mit sich. Ich habe genug davon, meine Vorräte mit so jemandem wie diesem großen, faulen Burschen da drinnen zu teilen.« »Was soll denn aus ihm werden?« seufzte Frau Haverhill. »Ich habe Master Bukerei geraten, ihn als mittellos zu verkaufen. Sogar in schlechten Zeiten erzielt man für einen jungen Unfreien einen Preis, mit dem man der Zunft und uns allen zurückzahlen kann, was wir für die Familie Cole ausgegeben haben.« Ihm stockte der Atem.
Frau Bukerei schniefte. »Aber der Zunftmeister will nichts davon hören«, beklagte sie sich bitter.
Er war viel zu jung, um als Schauermann im Hafen zu arbeiten, wusste aber, dass junge Unfreie in den Bergwerken eingesetzt wurden, wo sie in Stollen arbeiteten, die zu eng für Männer waren. Er wusste auch, dass Unfreie erbärmlich schlecht gekleidet und ernährt und oft schon wegen kleiner Übertretungen brutal ausgepeitscht wurden. Und dass man, wenn man einmal unfrei war, es sein Leben lang blieb. Er weinte.
Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen und sagte
sich, dass Richard Bukerei ihn nie als Unfreien verkaufen würde, aber er traute es Frau Bukerei zu, dass sie andere Leute schicken könnte, um ihren Vorsatz auszuführen, ohne ihren Mann zu fragen. Ihr war so etwas durchaus zuzutrauen. So wartete er in dem stillen, verlassenen Haus und begann bei dem leisesten Geräusch zu zittern.
Fünf bleierne Tage nach dem Begräbnis seines Vaters klopfte ein Fremder an die Tür.
»Du bist der junge Cole?«
Er nickte vorsichtig, sein Herz pochte laut.
»Ich heiße Croft. Ein Mann namens Richard Bukerei hat mich zu dir geschickt, den ich beim Bier in der Bardwell-Taverne kennengelernt habe.«
Rob hatte einen weder jungen noch alten Mann mit einem riesigen, fetten Körper und einem wettergegerbten Gesicht vor sich, das vom langen Haar eines freien Mannes und einem gekräuselten Bart von der gleichen rötlichen Farbe umgeben war.
»Wie lautet dem voller Name?«
»Robert Jeremy Cole, Sir.«
»Alter?«
»Neun Jahre.«
»Ich bin Bader und suche einen Lehrling. Weißt du, was ein Bader tut, junger Cole?«
»Seid Ihr eine Art Arzt?«
Der dicke Mann lächelte. »Vorläufig genügt das. Bukerei hat mich über deine Lage unterrichtet. Sagt dir mein Beruf zu?«
Das war nicht der Fall; er hatte keine Lust, so zu werden wie der Blutsauger, der seinen Vater zu Tode geschröpft hatte. Aber noch weniger wollte er als Unfreier verkauft werden, und er antwortete ohne Zögern mit ja.