»Keine Angst vor der Arbeit?«
»O nein, Sir!«
»Das ist gut, denn bei mir kannst du dir die Finger wund arbeiten. Bukerei hat gesagt, daß du lesen und schreiben und auch Latein kannst?«
Rob zögerte. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sehr wenig Latein.«
Der Mann lächelte. »Ich werde dich eine Zeitlang zur Probe nehmen.
Hast du eigene Sachen?«
Das kleine Bündel war seit Tagen geschnürt. Bin ich nun gerettet? fragte er sich. Draußen kletterten sie in den merkwürdigsten Wagen, den er jemals gesehen hatte. Zu beiden Seiten des Kutschbocks stand eine weiße Stange, um die ein dicker Stoffstreifen wie eine karmesinrote Schlange gewickelt war. Die Abdeckung des grellroten Gefährts war mit den sonnengelben Bildern eines Widders, eines Löwen, einer Waage, eines Steinbocks, zweier Fische, eines Schützen und eines Krebses bemalt.
Der Apfelschimmel zog an, und sie rollten die Carpenter's Street hinunter und am Zunfthaus vorbei. Rob saß wie erstarrt da, als sie durch die lebhafte Thames Street fuhren, und es gelang ihm immer wieder, einen schnellen Blick auf den Mann zu werfen; jetzt bemerkte er ein trotz des Fetts ansprechendes Gesicht, eine kräftige, gerötete Nase, eine Geschwulst auf dem linken Augenlid und ein Netz von feinen Fältchen, die von den Winkeln der durchdringenden, blauen Augen ausgingen.
Der Wagen überquerte die kleine Brücke über den Walbrook und fuhr an Egglestans Stall und der Stelle vorbei, an der Ma zusammengebrochen war. Dann bogen sie rechts ab und ratterten über die London Bridge zum Südufer der Themse. Er erkannte das Haus des Exporteurs, für den Ma gestickt hatte. Über diese Stelle war er nie hinausgekommen. »Master Croft?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Nein, nein. Man nennt mich niemals Croft. Ich werde immer Bader genannt, wegen meines Berufes.« »Ja, Bader«, sagte Rob. Nach wenigen Augenblicken lag Southwark hinter ihnen, und er erkannte voll Panik, dass er nun die seltsame, unbekannte Außenwelt betrat.
»Wohin fahren wir, Bader?« Er konnte den Schrei nicht unterdrücken. Der Mann lächelte, ließ die Zügel schnalzen, und der Apfelschimmel fiel in Trab. »Überallhin«, antwortete er.
Der Bader
Vor Einbruch der Dämmerung schlugen sie auf einem Hügel neben einem Bach ihr Lager auf. Der Mann verriet ihm, dass der schwerfällige Apfelschimmel Tatus hieß. »Eine Abkürzung für Incitatus, nach dem Roß, das Kaiser Caligula so geliebt hatte, dass er das Tier zum Priester und Konsul ernannte. Unser Incitatus ist für einen armen Kerl, den man kastriert hat, ein annehmbares Tier«, erklärte der Bader und zeigte ihm, wie man den Wallach betreute, indem er das Pferd mit weichem, trockenem Gras abrieb, es dann trinken und anschließend weiden ließ, bevor sie für ihre Bedürfnisse sorgten. Sie befanden sich im Freien in einiger Entfernung vom Waldrand, und der Bader ließ ihn trockenes Holz für ein Feuer sammeln. Rob musste den Weg mehrmals zurücklegen, um einen Haufen zusammenzukriegen. Bald knisterte das Feuer, und beim Kochen stiegen Düfte auf, bei denen seine Beine weich wurden. Der Bader hatte reichlich dünne Scheiben Räucherspeck in einen Eisentopf gelegt. Nun schüttete er den Großteil des ausgelassenen Fettes weg und schnitt eine große Rübe und mehrere Stangen Lauch in den Topf, zu denen er eine Handvoll getrocknete Maulbeeren und einige Kräuter hinzufügte. Als das duftende Gericht fertig schien, war Rob, als habe er noch nie etwas Besseres gerochen. Der Bader aß gleichmütig, sah zu, wie Rob eine große Portion verschlang, und gab ihm schweigend noch eine. Sie wischten ihre Holzschüsseln mit Brocken von Gerstenbrot aus. Ohne auf eine Anweisung zu warten, trug Rob den Topf und die Schüsseln zum Bach und rieb sie mit Sand rein.
Nachdem er das Geschirr zurückgebracht hatte, ging er hinter ein nahes Gebüsch, um Wasser zu lassen.
»Grundgütiger Herrgott, das ist aber ein bemerkenswerter Zipfel!« staunte der Bader, der plötzlich hinter ihm stand. Rob brach sein Geschäft vorzeitig ab und steckte sein Glied in die Hose. »Als ich klein war«, erklärte er schüchtern, »hatte ich eine Verletzung... eben dort. Ein Chirurg hat das Häutchen am Ende entfernt.«
Der Bader starrte ihn erstaun an. »Er hat die Vorhaut entfernt. Du bist beschnitten worden wie ein verdammter Heide.« Der Junge ging sehr verwirrt zurück und wartete aufmerksam.
Vom Wald her kroch Feuchtigkeit herüber, er öffnete sein kleines Bündel, entnahm ihm sein zweites Hemd und zog es über das an, das er trug.
Der Bader holte zwei Felle aus dem Wagen und warf sie ihm zu. »Wir schlafen im Freien, denn der Wagen ist mit allerlei Kram angefüllt.« Der Bader sah in dem offenen Bündel die Münze glänzen und hob sie auf. Er fragte nicht, woher sie stammte, und Rob verriet es ihm auch nicht. »Es ist eine Inschrift drauf«, sagte er. »Mein Vater und ich... wir haben angenommen, dass sie den Namen der ersten römischen Kohorte angibt, die nach London kam.« Der Bader untersuchte sie. »Ja.«
Offensichtlich wusste er eine Menge über die Römer und schätzte sie, nach dem Namen zu urteilen, den er seinem Pferd gegeben hatte. Rob war plötzlich davon überzeugt, dass der Mann seinen Schatz behalten würde.
»Auf der anderen Seite stehen Buchstaben«, sagte er heiser. Der Bader hielt die Münze näher ans Feuer, um besser lesen zu können. »IOX. IO bedeutet >hurra<, X ist >zehn<. Es ist ein römischer Siegesschrei: >Zehnmal hurra<!«
Rob nahm die Münze erleichtert wieder entgegen und schlug sein Lager beim Feuer auf. Die Felle waren ein Schafspelz, den er mit dem Fell nach oben auf den Boden legte, und ein Bärenfell, das er als Decke verwendete.
Sie waren alt und rochen kräftig, hielten ihn aber sicher warm.
Der Bader bereitete sich sein Lager auf der anderen Seite des Feuers und legte Schwert und Messer neben sich, damit sie zur Abwehr von Angreifern oder, so dachte Rob, zum Ermorden eines flüchtenden Jungen dienen konnten. Der Bader hatte ein sächsisches Hörn abgenommen, das er an einem Riemen um den Hals trug. Er schloss den Boden mit einem knöchernen Stöpsel, füllte es mit einer dunklen Flüssigkeit aus einer Flasche und reichte es Rob. »Mein eigenes Destillat. Nimm einen kräftigen Schluck!«
Er wollte es eigentlich nicht, hatte aber Angst, das Angebot abzulehnen. Einem Kind der Londoner Arbeitervorstadt drohte man nicht mit der milden, abgeschwächten Form des schwarzen Mannes, sondern es lernte früh, dass es Seeleute und Schauermänner gab, die darauf aus waren, einen Jungen hinter verlassene Lagerhäuser zu locken. Er
kannte Kinder, die Zuckerwerk und Münzen von solchen Männern
angenommen hatte, und er wusste, was dafür verlangt wurde. Ihm war klar, dass Trunkenheit ein häufiges Mittel zum Zweck war.
Er versuchte, einen zweiten Schluck abzulehnen, aber der Bader
runzelte die Stirn. »Trink!« befahl er. »Es wird dich beruhigen.«
Der Bader war erst zufrieden, als er noch zwei kräftige Schluck
getrunken hatte und heftig husten musste. Er nahm das Hörn auf seine Seite des Feuers zurück, trank die Flasche aus und noch eine, gab schließlich einen gewaltigen Furz von sich und legte sich hin. Er blickte nur noch einmal zu Rob hinüber. »Du kannst ruhig sein, Kleiner«, sagte er. »Schlaf gut! Von mir hast du nichts zu befürchten.«
Rob war sicher, dass dies ein Trick war. Er lag unter dem stinkenden Bärenfell und wartete mit gespanntem Gesäß. In der rechten Hand
hielt er seine Münze. In der linken Hand hielt er einen schweren Stein, obwohl er wusste, dass er nicht einmal mit des Baders Waffen einen Gegner für diesen Mann abgeben würde, ihm also hilflos ausgeliefert war.
Doch schließlich war ganz klar, dass der Bader schlief. Er war nämlich ein schrecklicher Schnarcher.
Der Bader wusste, was in seinem neuen Lehrling vor sich ging. Er war genau in diesem Alter gewesen, als wütende Horden das Fischerdorf Clacton, in dem er zur Welt gekommen war, überfallen hatten und er allein zurückgeblieben war. Es hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Aethelred war der König seiner Kindheit gewesen.