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Die Dämmerung war eingebrochen und nahm rasch zu. Arnold blieb stehen und dachte nach. Fast mechanisch schritt er dann in die Gasse hinein, wo Elasser wohnte. Er trat an das Fenster des Erdgeschosses und warf einen Blick in die niedrige Stube. Die Kinder hockten aufmerksam um den Tisch. Frau Elasser und ein fremder kleiner Mann standen betend vor einem andern, weißgedeckten Tischchen, auf welchem auch Kerzen brannten. Der eben eintretende Elasser ließ seinen Pack sinken und die Betenden gingen auf ihn zu. Auch die Kinder erhoben sich von ihren Plätzen, und der Knabe, mit welchem Arnold schon Bekanntschaft geschlossen hatte, sagte etwas mit lauter Stimme, aber die Worte blieben unverständlich. Der Fremde, dessen Gesicht zutraulich und nachsichtig aussah, nickte. Er war etwa siebzig Jahre alt, war bartlos und hatte einen fast belustigend kleinen Kopf.

Arnold legte die Hand vor die Augen. Er befand sich jetzt wie auf einem Ruhepunkt über den Geschehnissen. Es war, als ob sich die Bilder greifbar in die Finsternis zwischen Hand und Auge zwängten. Er sah Jutta, widerrechtlich leidend und diese dort im Haus, widerrechtlich zögernd, feig aller Vernunft zum Spott. Ging der Spruch auf so langsamen Füßen? Wo war der, dessen Amt es war, Gerechtigkeit zu üben? Geschah deshalb nicht, was hätte geschehen können, weil niemand die Hand erhob und den Mund öffnete? Warum saßen sie dort in ihren Zimmern und duckten sich, ließen Unrecht an sich herabrinnen wie Wasser? Hatten sie denn vergessen? Ihm brannte jede Stunde ein tieferes Mahnzeichen ein, er konnte nicht vergessen.

Oder gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit? dachte er schaudernd. Ist das alles Unsinn oder Einbildung? Er lehnte den Kopf zurück und schaute empor, um ein Stück des Himmels und seiner Sterne zu suchen. Denn es war indessen Nacht geworden. Der Mond stieg zwischen den Häusern herauf.

Dann blickte er, sich vorsichtig am Rand des Fensters haltend, von neuem in das Zimmer. Elasser saß an dem kleinen, gedeckten Tisch, während die andern an dem runden Tisch das Abendessen nahmen. Arnold sah, daß der Fremde einige Male hinüberging, aber Elasser, den Bart in der Faust zerknüllend, schüttelte stets den Kopf. Die Frau saß starr und in sich gekehrt. Als die Kinder sich in die anstoßende Kammer zur Nachtruhe begeben hatten, legte sie den Säugling an ihre magere Brust und schaute düster sinnend ins Licht der Lampe. Zwischen dem fremden Mann und Elasser entstand ein Wortwechsel, und murmelnde Laute drangen zu Arnolds Ohr; aber der Fremde reichte bald darauf der Frau die Hand und wollte sich auch von Elasser verabschieden, dieser schickte sich jedoch an, den Gast zu begleiten. Die Haustüre kreischte und die zwei Männer traten auf die Schwelle. Beide machten eine Gebärde des Schreckens, als sie an der Mauer, wunderlich dunkel inmitten eines vom Mond gebildeten Lichtdreiecks einen Menschen stehen sahen. Arnold ging auf die beiden zu und fragte sogleich: »Was ist also geschehen? Kommt Jutta zurück?«

Ein langes Schweigen entstand. Elasser blickte Arnold verwundert und immer mehr verwundert ins Gesicht. Endlich sagte er zu seinem Begleiter, dessen Züge die Gewohnheit des Wohlwollens und der Milde verrieten: »Das ist der Herr von Ansorge, ders so gut meint mit uns.«

Der Alte ließ sein Köpfchen hin und her pendeln, das trotz seiner Kleinheit den Schultern eine zu schwere Last war.

»Wie steht es also?« fragte Arnold ungeduldig.

»Es steht schlecht,« sagte Elasser. »Keine Hand bewegt sich. Es werden Erhebungen angestellt, heißts, und mich haben sie herumgehetzt wie einen Hund, und ich soll warten. Nun, ich wart, wir warten lang genug, is es gefällig? In vier Wochen wird Jutta vierzehn Jahr alt und dann ist keine Hoffnung mehr.«

»Es ist in der Schrift geschrieben,« mahnte der Fremde, »man soll das Unrecht sich ergießen lassen ganz.«

»Eine schöne Schrift!« rief Arnold empört. »Wartet ihr darauf, bis man euch den Kopf abschlägt?«

Elasser machte eine weitausholende Bewegung mit den Armen. »Herr,« antwortete er, »Sie kommen mir wahrlich vor wie jener Jud, der nicht hat lernen wollen Deutsch, weil er hat geglaubt, die ganze Welt ist jüdisch. Die Welt ist nicht jüdisch, gnädiger Herr. Das Recht ist für Sie und nicht für uns.«

Langsam waren die drei gegen das Flußufer gegangen. Arnold stieß mit dem Fuß einen Stein ins Wasser und heftig bewegt sagte er: »Aber wie könnt ihr ruhig dastehen, Leute, und schwätzen, immer schwätzen! Es ist ja die niederträchtigste Teufelei, wenn ihr euch nicht rührt um eure Sachen. Mein Recht ist euer Recht, und euer Recht ist Kaisers Recht. Da ist nicht daran zu tifteln. Die Gerechtigkeit ist für alle.«

»Der Herr ist in einem großen Irrtum,« erwiderte Elasser finster. »Das Recht ist da; auch die Richter sind da; gleichfalls die Bücher, worein alles steht geschrieben. Aber die Gerechtigkeit? Die ist nicht da.«

Verächtlich spuckte Arnold auf die Erde und entgegnete mit äußerster Feindseligkeit: »Lügner und Faulenzer seid ihr.«

Der fremde alte Mann stand mit gesenktem Kopf. Die Weltanschauung der Geduld, die ihm Nieren und Hirn geformt hatte, geriet plötzlich in einen geheimnisvollen Aufruhr. In seinen langen Lebensjahren hatte er genug gesehen an Vergewaltigung des Rechts, an blutigen Wunden, welche die Unschuld trug, an tyrannischem Übereinkommen der Mächtigen, um in einem eingebildeten Rächer den letzten Trost zu finden. Nun ging ein Blitz über ihm nieder und zündete in seiner Brust, deren Empfindungen schon versteinert schienen. Nicht Arnolds Worte hatten das vermocht. Was waren ihm Worte! Auch das Unglück des ihm blutsverwandten Elasser nicht, obwohl dies böswillige Hinziehen, dies tückische Verbergen, dieser eingestandene Raub, dies Schauspiel öffentlicher Schmach und Feigheit auch Gleichgültige erregt hatte. Das Neue kam von Arnold her. Berauschend strömte der wilde Idealismus auf ihn ein, befeuerte ihn, und er gedachte seiner eigenen unerfüllten Jugend. »Ja, Samuel,« sagte er mit veränderter Stimme, »du mußt deine Pflicht erfüllen. Wir wollen vor den Kaiser hintreten. Gern will ich das Geld, was du brauchst, hergeben, denn es ist zum guten Zweck. Es ist uns schon gesagt worden, daß wir können eine Audienz bekommen und Seine Majestät wird uns anhören.«

»Er wird richten,« sagte Arnold befriedigt.

»Ich will nicht sagen, er wird,« antwortete der Alte mit feinem Lächeln, »aber es kann sein. Reisen wir also nach Wien, Samuel.«

Elasser starrte bewegt vor sich hin. Während die beiden Alten sich noch beredeten, kniete Arnold am Flußufer nieder, nahm die Mütze ab, legte die Binde beiseite, die seinen Hals umschloß, stülpte die Ärmel bis an die Ellenbogen auf und wusch sich das Gesicht mit dem eiskalten Wasser. Darauf wurde ihm wohl und kühl.

Sechzehntes Kapitel

Die nachgesuchte, durch einflußreiche Personen unterstützte Audienz des Juden Elasser beim Monarchen wurde genehmigt. Eine jener Zeitungen, welche die öffentliche Meinung beherrschen, schrieb, daß die Angelegenheit, welche solange das Staunen und die Beunruhigung aller Redlichdenkenden verursacht habe, nun endlich vor eine Instanz gelangt sei, bei der es kein Zaudern und keinen Umweg gebe.

Von den Einzelheiten der Audienz wurde wenig bekannt. Der Monarch geruhte, die ihm überreichte Bittschrift aufmerksam durchzulesen und richtete dann an den unglücklichen Vater, der schluchzend vor ihm kniete, die verheißungsvollen Worte: »Ich werde neue Weisungen an die Behörden geben, damit sie ihre Pflicht und Schuldigkeit tun.« In der Tat wurden schon zwei Stunden nach der Audienz Befehle solcher Art erlassen.

Aber Tag auf Tag verging ohne Botschaft und Erfolg. Als Elasser erfuhr, daß Jutta im Kloster bei Tarnobrzeg gesehen worden sei, wandte er sich telegraphisch an den Bezirksrichter, doch dieser wies ihn an denselben Staatsanwalt, der schon früher jeden Antrag abgelehnt hatte. Elasser ging zum Ministerpräsidenten, welcher auf seine Bitte um Schutz erwiderte: »Sie verdienen es, das gebührt Ihnen.« Es geschah nichts. Elasser wandte sich an den Justizminister und erhielt die Versicherung, daß von der Statthalterei alles aufgeboten werden würde, um den Aufenthaltsort des Mädchens zu ermitteln. Es solle alles aufgeboten werden, um dem Vater seine Tochter vor dem 10. Februar wiederzugeben, an welchem Tag sie das religionsmündige Alter erreicht haben würde. Elasser wartete. Das Leutebereden, In-Vorzimmern-Hocken, Bitten, Sichverbeugen, Erklären nahm kein Ende. Man schüttelte den Kopf, gab Ratschläge, war bedenklich, zerstreut, ergriffen, beschäftigt, ängstlich oder von frecher Deutlichkeit. Die Zeit ging hin. Ein anderer Skandal erweckte die Aufmerksamkeit der Menge. Elasser sagte sich, Jutta sei tot. Ihn zog es nach Hause. Er hatte sich müdgegangen, müdgeredet, müdgebettelt, müdgehofft. Am letzten Tage faßte er sich noch einmal zu einem letzten Gang zusammen; es gelang ihm, den Minister für Galizien zu ungewohnter Stunde zu sprechen. In drangvoll verhaltener Wildheit stellte er eine letzte Frage, um dann für immer zu erschlaffen. Die würdige alte Exzellenz, menschlich erschüttert, verlor den öffentlichen Tonfall und sagte die denkwürdigen Worte »An den Mauern des Klosters hat unsre Macht ein Ende.«