Ist es möglich? dachte er und empfand wieder das schreckliche Zittern. Er sah Gesichter vor sich, die er noch nie gesehen. Sie hatten einen ernsten, grämlichen, harten und gleichgültigen Ausdruck. Gleichgültig war ihnen das, was geschah und ihre trüben Augen sahen leblos aus wie Muscheln. Ein Bach floß über den Weg. Auch im Wasser wimmelten Gesichter, ja, Vorgänge voll Bosheit. Er kam zu einem Bauernhof, es war weit weg von Podolin. Während er aus dem Gehölz trat, sah er, wie ein Knecht eine weiße Katze beim Schwanz hielt und heftig mit einem Prügel auf das Tier einhieb. Schon zeigte sich Blut. Arnold lachte atemlos; er sprang hinüber (der Straßengraben lag dazwischen), packte den Knecht bei den Hüften, warf ihn nieder, schlug mit der Faust in das bärtige Gesicht und schüttelte den Mann voll Raserei, bis ein tiefes Aufatmen seine Brust von einem schweren Druck frei machte. Der Knecht brüllte, aber niemand eilte ihm zu Hilfe, der Hof lag verödet. »Still«, sagte Arnold, indem er den Mann bei den Haaren ergriff. Er ließ ab. Der Knecht erhob sich langsam auf ein Knie; er machte eine Bewegung der Wut, aber dann blieb er tückisch gebückt an seinem Platz.
Arnold entfernte sich, ohne daß der Gezüchtigte sich rührte. Er konnte nicht verweilen. In seinen Füßen steckte Ungeduld; seine Schläfen waren heiß wie von Weingenuß. Eile, eile, schienen die Steine zu rufen. Eile! mahnten die Wolken. Eile! sauste der Wind. Frech kam ihm sein Zögern vor, denn er erschien sich beleidigt, maßlos übervorteilt. Alle schienen zu leiden, die unsichtbar ihm nahelegten, zu eilen. Ach welch ein Zorn ergriff ihn immer wieder mit neuer Gewalt! Wenn er stillstand, um aufzuatmen, war es schon ein Frevel, und jede Pore seiner Haut war zum selbständig hörenden Ohr geworden.
Ist es eine Welt? dachte er; wo leb’ ich denn? was geschieht denn? Ist es erlaubt? Und neuerdings riefen die Steine, das Wasser, die Luft, die Wolken: eile! Er fürchtete zu spät zu kommen. Der Erste, dem er sagen würde, was vorgefallen, mußte ja niederfallen, von Schande erdrückt und Zähneknirschen mußte seinen Mund für jede Speise verschließen. Sieh doch an, was geschehen ist, wollte er ihm erzählen. Aber dessen bedurfte es gar nicht, wozu erzählen? Ein Hinweis, ein Satz und es war genug. Keiner würde seine Stimme ruhen lassen, ein Geschrei würde kommen, alle würden schreien: Gerechtigkeit! Gerechtigkeit! sonst ist es nicht möglich zu leben. Arnold, würde die Mutter sagen, geh’ hin und ruhe nicht, denn sie können sonst nicht leben.
Alle hatten geschlafen wie er selbst; in ihren Gesichtern lag der Schlummer: Hanka, der Pfarrer, Specht, Beate, Ursula, Borromeo, die Knechte, die Podolinschen Leute. Er war froh, seinen Arm zu fühlen, seine Kräfte zu spüren, seine Jugend und die Genugtuung, den Schlaf von sich entfernt zu haben. Dann werden sie herankommen und lächeln und sie werden sagen; weshalb hast du nicht früher, Arnold Ansorge, dich eingefunden? Nun will ich wachsam sein, erwiderte er ihnen und begann zu lächeln, indem sein Gesicht sich mit Röte bedeckte. Und er lächelte den ganzen Weg nach Hause und als er ins Zimmer trat, sah er Ursula weinend an der Türe stehen, auch die Pflegerin weinte, und oben am Lager der Mutter stand unbeweglich der Pfarrer.
Arnold ging langsam näher. Sie ist tot, dachte er; weder Schrecken, noch Trauer ergriff ihn. Lächelnd faßte er die Hand der Gestorbenen mit einem Ausdruck des Versprechens, einem Ausdruck der Ruhe. Als Ursula ihn ansah, schrie sie laut auf und lief aus dem Zimmer. »Sie ist tot,« sagte der geistliche Herr mit scharfer Stimme. Arnold nickte lächelnd zu ihm auf.
Der Pfarrer wich zurück, steckte sein Buch in die Tasche, murmelte vor sich hin, sah sich murmelnd um und verließ das Zimmer. Die Pflegerin riß mit eiligen Gebärden ihren Mantel von der Wand und folgte dem Pfarrer. Als es still um Arnold war, begann wieder das formlose Wallen in seiner Seele. Er wanderte in dem engen Zimmer auf und ab. Türe und Fenster waren weit geöffnet, keine Menschenseele war nah, alle hatten sich entfernt und geflüchtet wie vor einem bösen Geist. Die Dämmerung war schon gekommen; der Himmel, reingefegt von Wolken, färbte sich langsam vom aufsteigenden Mond. Die Lüfte und Winde ruhten. Eine Magd, dieselbe die im Flur gestanden war und geweint hatte, schlich am Fenster vorbei, während die Gärtnersfrau und Ursula von fern lauschten. Als die Spionin Arnold mit sich selber sprechen hörte, glaubte sie, er führe eine Unterhaltung mit der Toten und schwindelnd vor Schrecken lief sie davon. Ursula hatte schon am Morgen dem Doktor Borromeo Nachricht gegeben; Arnolds Ausbleiben hatte sie zu selbständiger Handlung getrieben, jede Stunde erwartete sie Erlösung von ihrer Angst.
Neunzehntes Kapitel
Der Mond beschien den Leichnam, der schon seit dem Mittag gewaschen und hergerichtet war. Ursula und die Pflegerin saßen im Gärtnerhaus; auch die Pflegerin wartete auf die Ankunft Borromeos und auf ihre Entlohnung. Spät abends nahm Ursula vier Kerzen, die sie im Dorf gekauft, überschritt Garten und Hof, trat ins Sterbezimmer und sah Arnold am Fenster sitzen, zwanglos angelehnt, die Arme leicht über die Brust verschränkt. Ursula schaffte vier Leuchter herbei, und bald brannten die Kerzen an den vier Enden des Lagers. Arnold sah ruhig zu und ließ sie gewähren, auch dann, als sie, auf einem Schemel hockend, sich anschickte, die Nacht bei der Herrin zu verbringen. Nach kurzer Zeit begann sie indes zu schlafen.
Viele Stunden waren vorbei, es mochte gegen vier Uhr morgens sein, als das Rädergerassel eines Wagens laut wurde. Ursula erwachte, sprang empor, ein Gebet flüsternd, und als sie fertig war, trat Friedrich Borromeo ein. Zum drittenmal seit wenig Monaten; er war schon vorbereitet auf den Anblick einer Toten. Trotzdem, als er am Bett der Schwester stand, schluchzte er trocken vor sich hin.
Arnold, den die Dunkelheit ohnedies verborgen hatte, verließ zartsinnig das Zimmer. Der Mond stand tief und gelbrot am Himmel. Nebel zogen über die Ebene. Nicht lange vermochte er draußen zu bleiben. Er ging zu Ursula, die in der Küche Kaffee kochte und bat, ihm im Lauf des Vormittags seine Wäsche und was sonst zur Reise und langen Abwesenheit nötig, zu richten und einzupacken. Vor Erstaunen vermochte sich die Alte nicht zu rühren.
Borromeo folgte Arnold alsbald. Er reichte ihm die Hand und wandte dann in geheimnisvoller Verlegenheit und Ablenkung die Augen wie Arnold gegen das flackernde Herdfeuer. Das Schweigen wurde durch Ursula unterbrochen. Auf Arnold zugehend, fragte sie heftig: »Zum Begräbnis wirst du doch bleiben? Packen, was soll das heißen? Wo hinaus denn so geschwind?«
Borromeo hörte betroffen zu. Nach einer Pause fragte er sanft: »Meint sie dich, Arnold? Willst du denn fort?«
Mit einer beredten und lebhaften Gebärde sagte Arnold: »Ja. Ich will fort. Muß fort. Bald, sobald wie möglich. Gleich nach dem Begräbnis. Man muß einen Verwalter mieten.«
»Willst du mir das nicht erklären?« fragte Borromeo matt.
Beide Männer gingen in die anstoßende Kammer. Borromeo schritt voran und trug das Petroleumlämpchen. Wieder hatte ihn jene düstere Verlegenheit erfaßt.
»Zuerst will ich wissen, wie viel Geld ich besitze, dann das andere«, begann Arnold.
Borromeo senkte die Augen. Seine Stirn bedeckte sich mit Unmut. »Du hast ungefähr siebenhundertsiebzigtausend Gulden in sehr guten Wertpapieren,« entgegnete er kalt. »Die Verzinsung ist nicht übermäßig hoch, aber die Anlage ist sicher. Ich darf dich vielleicht darauf aufmerksam machen,« fuhr er mit bureaukratischer Gelassenheit fort, »daß ich bis zu deinem vierundzwanzigsten Lebensjahr dein Vormund bin und nach unsern Gesetzen ist es mir nicht nur gestattet, sondern ich bin auch verpflichtet, deine Schritte zu überwachen und dein Vermögen zu verwalten.«