Damit beendigte Alexander Hanka seine ernsthaften Überlegungen. Aber das Zimmer und das Haus waren ihm zu eng geworden und er begab sich ins Freie, trotzdem schon finstere Nacht angebrochen war. Er vermochte kaum den Weg zu erkennen, der ihn von den Feldern schied. Der Himmel, kaum wahrnehmbar, glich einem tiefverdunkelten Milchglas, und die übrige Welt lag schwarz wie Kohle. Um es in seinem Innern hell werden zu lassen, dazu war Hanka die äußere Nacht sehr willkommen. Aber wie ehrlich er sich auch bemühte, Klarheit fand sich nicht.
Am andern Morgen trat er mit einem militärisch ausholenden Schritt vor Agnes hin, als er sie allein sah. »Was würdest du sagen,« fing er ohne Umstände an, den Mund ihrem Ohr nahe, »wenn ich Beate heiraten würde?«
In großer Bestürzung riß Agnes die blauen Augen auf. Hanka saugte verlegen und krampfhaft an seiner Zigarre, sah sich spähend um, riß plötzlich ein leeres Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb in hastigen Zügen: »Du mußt gestehen, daß es nicht übermäßig vernünftig wäre. Heiraten ist in jedem Falle eine Dummheit, zugegeben, aber ich habe mich wenigstens auf diese Dummheit gut vorbereitet. Ad zwei: für mich ist die Ehe etwas wie eine Heilkur. Ich bin nicht verliebt, was ja an sich ziemlich traurig, aber für das ganze Unternehmen von Vorteil ist. Was mich besonders anzieht, kannst du dir denken.«
Agnes las langsam mit, indem sie ihre Schulter an den linken Arm Hankas lehnte. »Nun?« fragte sie, naiv und ergeben zu ihm emporblickend, als seine Hand zögerte.
Er zuckte die Achseln und knüllte das Blatt zusammen.
»Du mußt es selber am besten wissen, Alexander,« sagte Agnes, indem auf einmal ihre Augen feucht wurden. Sie senkte verwirrt die Lider und machte sich nachdenklich an ihre häuslichen Arbeiten. Hanka nahm, unzufrieden mit sich, ein Buch, um zu lesen. Es ist unmöglich, sich jemand zum Freund oder zur Gattin zu züchten, dachte er und spuckte verächtlich durchs Fenster in den Garten, den die Sonne durchflutete; aber erst die Ereignisse charakterisieren eine Handlung, und ich will mich nicht selbst verraten, weil es mir einmal geglückt war, Idealist zu sein.
Als Beate ins Zimmer trat, schritt er ein paarmal auf und ab, dann wandte er sich plötzlich mit einer erzwungen pfiffigen und überlegenen Miene zu ihr. »Was würdest du sagen, Beate,« begann er mit derselben hölzernen Phrase, mit der er Agnes angeredet und in einer enorm tiefen Stimmlage, »was würdest du sagen, wenn ich dir einen Heiratsantrag machen würde?« Er sah verärgert aus und Runzeln erschienen auf seiner Stirn. Und da Beate unbeweglich vor sich hinsah und endlich mit langsamen Schritten das Zimmer verließ, sank er in ein tiefes Nachdenken und pfiff leise, ohne die Blicke vom Boden zu erheben. Es mochte eine Stunde später sein, als ihm das junge Mädchen am Hauseingang begegnete. Sie erhob im Vorbeigehen den Kopf und sagte mit listigem Lächeln: »Ja.« Hanka durcheilte klopfenden Herzens den Garten.
Die Nachricht von Frau Ansorges Tod war schon am Morgen zu Hankas gelangt. Alexander Hanka hatte sich gegen den üblichen Teilnahmsbesuch erklärt. Am folgenden Tag war das Begräbnis und dorthin beschloß Hanka zu gehen. Der Kirchhof lag hoch auf dem Hügel. Trotz des klaren Nachmittag-Himmels herrschte ein sturmartiger Wind. Die Gräber waren noch mit Schneeresten bestreut, die wie Blumen durch Zweig und Erde lugten. Hanka hielt sich abseits. Mit einer Mischung von Staunen und Ungläubigkeit beobachtete er Arnold, der neben dem Grab stand und mit einer wunderlichen Ruhe in das viereckige Loch blickte, als der Sarg hinabgelassen wurde. Alle sahen auf ihn, selbst der Pfarrer stotterte in seiner formelhaften Rede, brach plötzlich erregt ab und entfernte sich. Ursula weinte, aber lauter klang der Schrei einer Krähe, die über die Köpfe flog. Borromeos bleiches Gesicht über dem dunklen Bart wurde noch bleicher. Auch er hatte die Augen auf Arnold gerichtet, jedoch ohne Unwillen, ohne Vorwurf.
Zu Hause betrieb Hanka seine Vorbereitungen zur Reise, denn nun galt es, die Zeit zu nutzen. Er hätte sich an diesem Abend eine leichtere Stimmung gewünscht. Früh am Morgen fuhr der Wagen vor, der ihn zur Station bringen sollte. Nach anderthalb Stunden stand er auf dem Bahnhof und sah Doktor Borromeo und Arnold, beide reisefertig, beide gleich ihm den Zug erwartend. Hanka grüßte mit der ihm eigenen ernsten Verbindlichkeit, näherte sich aber nicht, sondern schritt in der holzgedeckten Halle auf und ab. Es war ein wunderschöner Tag; die Luft war still, die Erde hauchte feuchten Duft aus. Weithin schimmerten die Gleise in der Sonne und verloren sich in den graublauen Waldzügen der Ebene.
Natalie
Einundzwanzigstes Kapitel
Borromeo hatte Arnold in seinem Hause Wohnung angeboten, er hatte erklärt, daß der obere Halbstock völlig leer stehe und daß Arnold über drei Zimmer ungestört verfügen könne. Arnold hatte eingewilligt.
Schweigend und unablässig beriet Borromeo mit sich selbst. Arnolds Nähe erregte ihn und spannte ihn ab. Der Anblick dieser gesammelten Züge, dieses festen und frischen Blicks machte ihn furchtsam und wortkarg. Längst entherzigt, längst hohl gesogen, kämpfte Borromeo einen beständigen stillen Kampf mit den Affekten anderer Menschen.
Am Nachmittag kamen sie in Wien an und fuhren im offenen Wagen vom Bahnhof weg. Als Arnold zum erstenmal die Straßen der Stadt gewahrte und die Flut der Getöse in seine Ohren drang, wurde er ganz bestürzt. Schreien, Johlen, Schimpfen, Befehlen erschallte. Es klopfte, knallte, polterte, rasselte und dröhnte; Wagen fuhren, Karren knatterten, Glöckchen klimperten; es zischte, stampfte, ächzte, heulte, hämmerte und knisterte. Menschen liefen, die heftig mit den Armen schlenkerten; andere, denen Schweiß auf der Haut glänzte; andere, deren Gesichtsmuskeln krampfhaft verzerrt waren; andere, die wie im Wahnsinn stierten und weder rechts noch links schauten; andere, die in vornehmen Kutschen lehnten und deren Mienen förmlich gelähmt waren; andere, die lachten und schwatzten, indem sie doch einen schmerzhaften und angestrengten Zug behielten. Die Luft war dick von Staub. Die langen Reihen gleichmäßiger Häuser zeigten zahllose Fenster; anders sah hier der Himmel aus, anders die Wolken, anders schien die Sonne. An den Mauern hingen buntfarbige Fetzen, worauf in der seltsamsten Weise Seifen, Weine, Eßwaren, Zeitungen, Möbel, Konzerte, Kleider, Heilmittel und Kunstwerke angepriesen wurden. Hunde liefen unruhvoll herum, Soldaten marschierten stumpfsinnig, Bier-, Speisen- und Ladengerüche zogen aus den Häusern, krüppelhafte Bäumchen erhoben sich hinter prachtvollen Gittern, alles war in Bewegung, in Hast, als ob es hier keinen Schlaf, keine Nacht, keine Ruhe, kein Besinnen gäbe.
Bald war das Borromeosche Haus erreicht. Es war ein altes Gebäude, das in einer engen, finstern, gewundenen Gasse der innern Stadt lag. Ein Diener kam, um das Reisegepäck in Empfang zu nehmen. Borromeo führte Arnold sogleich in das obere Stockwerk, das ihm zur Wohnung dienen sollte. Die Zimmer waren hoch und still. Borromeo erklärte, daß in früheren Jahren der Bruder seiner verstorbenen Frau hier gewohnt, ein Mann, der sich in den Studentenjahren durch Trinken und Weiber ruiniert habe. Inmitten seines knappen Berichts brach Borromeo ab und wandte den Blick langsam zur Tür, durch welche seine Frau eintrat. Sie war von geradezu fürstlicher Erscheinung. Ihr Gesicht war bleich, ihre Lippen, um die ein entgegenkommendes und gleichsam strahlendes Lächeln lag, waren brennend rot. Fast von demselben Rot waren die Haare, die in der reichsten Fülle zu einer Krone frisiert waren. Jeder Schritt der Frau war mit einem Rauschen verbunden, welches für Arnold etwas außerordentlich Rätselhaftes hatte. Mit einem neugierigen und staunenden Gesicht wandte er sich der Dame zu und er verspürte einen beunruhigenden Wohlgeruch im Zimmer.