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In dieser Vermutung lag bereits ein schriller Ton, mit kalten Sinnen war sie nicht gesprochen. Und nüchterne Überlegungen — Hans kreiste wie ein zweiter Dr. Watson die Möglichkeiten der Taube ein, in dieses Schlafzimmer vorzustoßen — konnten denn auch kaum Gehör finden. Die Fenster der ganzen Wohnung hatten weit offen gestanden, um den Farbgeruch abziehen zu lassen. Da sei die Taube hineingeflogen und habe unter dem Bett gesessen, wie sie auf der Straße häufig unter den geparkten Autos herumgepickt hatte —, als Souad wegen der schlagenden Fensterflügel während des Gewitters die Wohnung betrat und ihren Fluchtweg verschloß. Als die Taube erkannte, daß sie gefangen war, habe sie die Nerven verloren. Das brauchte er Ina gar nicht erst auszumalen, das sah sie selber so eindringlich vor sich, daß sie die Hände vor die Augen hob. Aus der ekelerregenden wurde die bemitleidenswerte Taube. Ihr verrücktes Flattern und ihr Knallen gegen Decken und Wände, ihre wilden Darmentleerungen, um überhaupt noch irgend etwas zu tun, und ihr Niederhocken und Sterben durchlitt sie wie eine Schwester.

«Es lebt etwas von dieser Taube in unserem Schlafzimmer. Sie hat in diesem Zimmer Todesangst gehabt, und das ist ein derart starkes Gefühl, daß etwas davon zurückbleibt«, sagte Ina ins dunkle Pensionszimmer hinein, nachdem Hans sie mit allen einem Ehemann zu Gebote stehenden Mitteln zu beruhigen gesucht hatte. Die Wiedersehensnacht, die er sich erhofft und erträumt hatte, wurde es freilich nicht.

Es stellte sich jetzt auch heraus, daß die drei Wochen mit Frau von Klein an den Nerven dieser gehorsamen und hingegebenen Tochter gezerrt haben mußten. Es war ungemütlich in der Gegenwart von Frau von Klein. Sie hatte eine Eigenschaft, die selbst ihre Tochter nicht verstand: mit allen Bedingungen, die sie umgaben, höchst unzufrieden zu sein, alles einer harschen Kritik zu unterziehen, an nichts Gebotenem ein gutes Haar zu lassen und gleichzeitig in großer Gelassenheit und unantastbarem Seelenfrieden zu leben. Nicht einmal Ina hörte auf, darüber zu staunen, daß ihre Mutter nicht aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen war, was ihr an Tadelnswertem auch zustoßen mochte. Sie wußte sich immer auf der sicheren Seite und wählte ihren Platz im Leben grundsätzlich gleichsam neben dem Notausgang.

Hans sah, daß es das Beste sei, Ina die eigentliche Einrichtung der Wohnung zu überlassen. Geschlafen werden konnte eigentlich nur in dem Tauben-Zimmer. Es lag zum Hof und war ruhig, es lag neben dem Bad, und es war größer als» Mamas Zimmer«, wie der Raum daneben tatsächlich schon hieß, und zwei weitere Räumchen, die wohl am besten in begehbare Kleiderschränke zu verwandeln waren. Aber hätten sie nicht auch in dem großen Zimmer schlafen können, das nach Süden und auf den betriebsamen Platz blickte? Warum sollten sie nicht Wärme, Weite und Leben von dort unten auch im Bett auskosten? An größere Einladungen mit Abendessensgästen war ohnehin noch nicht zu denken. Sie kannten hier keinen Menschen.

Ina tat ihre Arbeit sehr geschickt und mit leichter Hand. Bald schon bauschten sich prachtvolle Vorhänge aus irgendeinem künstlichen Futterstoff vor den Fenstern, und ein Großeinkauf in dem planend bereits genannten Möbellager füllte die Räume mit Korbsesseln, Kissen, Tischchen und Lampenschirmen, daß es schon beinahe wie in den Katalogen dieses Möbellagers bei ihnen aussah. Es war, als solle eine Bühne ausgestattet werden, wozu der große Raum auch verführte durch seine tatsächlich theaterartig anmutende Leere. Nachdem der Möbelwagen ausgeladen war, konnte man wirklich glauben, Ina habe in die Hände geklatscht und wie im indischen Märchen einen Palast, nun, ein Palästchen, ein geschmackvolles, jugendlich farbenfrohes Heim von Geisterhand herbeigetragen bekommen.

Und wo war das Schlafzimmer? Es war, Hans rührte aber mit keinem Wort daran, dort, wo es vernünftigerweise auch hingehörte. Die Wohnung wußte bei ihrer Einrichtung auch ein Wort mitzureden. Ob da am Ende doch ein geheimer Kampf hatte ausgefochten werden müssen, ahnte Hans freilich nicht. Ina ging so ernsthaft in ihrem Einrichtungswesen auf, daß die seelische Befangenheit, die sie ausstrahlte, auch schöpferische Zerstreutheit sein mochte, eine Unfähigkeit, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als der Verwirklichung ihrer Pläne. Und Zeit hatte sie sich nicht gelassen. Sie hatte die Wohnung mit einer Geschwindigkeit in Schuß gebracht, als werde sie in einem Büro erwartet und müsse so schnell wie möglich damit zu Rande kommen.

In ihrer blitzenden Frische mußte die Wohnung jeden überraschen, der durch die öde Verbrauchtheit der Umgebung zu ihr vordrang. Man konnte hier oben wirklich vergessen, in welchem Viertel man sich aufhielt. Hans machte Ina große Komplimente für ihre Leistung. Er bewunderte die wolkige Pracht des falschen roten Tafts, der als Abbreviatur eine lustige Salon-Illusion erzeugte, und dankte ihr von Herzen. Im Grunde entspreche eine derartige Wohnung in einem solchen Viertel der Umwandlung, in der die gesamte Laster- und Vergnügungswelt begriffen sei. Die Erleichterung darüber, daß dies Wohnungswagnis doch noch gelungen sei, verleitete ihn dazu, sich als Soziologe zu versuchen. Der altgewohnte Huren- und Spielerbetrieb, die Netzstrumpfträgerinnen, die das Handtäschchen schwenkten, die dicke Schminke, der Schmutz der Hinterzimmer, das Unbürgerliche, die alte Vorstellung eines unberührbaren, aber vielfach nützlichen fahrenden Volkes stünden an ihrem Ende. Eine Hure sehe heute nicht mehr aus wie eine Hure, sondern wie die Verkäuferin in einer Boutique oder eine Studentin der Zahnmedizin; man benötige auch keine anrüchigen Quartiere mehr, denn man telephoniere sich schnell zusammen — ihm fielen wohl Abdallah Souads Geständnisse ein —, bald gehörten die Prostituierten ohnehin zu den Lebenshilfeberufen, wie therapeutische Masseure oder Psychotherapeuten. Die ganze Vorstellung von schlechten Vierteln und gefährlichem Publikum, von rotem Licht und Verstohlenheit sei gestrig, in der Realität kaum mehr aufzufinden. Was es in dieser Hinsicht noch gebe, müsse geradezu unter Denkmalschutz gestellt werden wie andere aussterbende Berufe. Dachte er da an die Schweden-Reise mit Ina, als sie in einem Museumspark der wettergegerbten Samländerin beim Besticken eines Robbenfells zugesehen hatten?

«Meinst du, du könntest das der Mama erklären?«fragte Ina. Keine Ironie schwang in dieser Frage mit. Sie versuchte sich wirklich vorzustellen, wie solche Argumente auf ihre Mutter wirken müßten.

Jetzt hätte die Einweihung der Wohnung gefeiert werden können.»House-Warming-Party «wurden solche Feste in Hans’ amerikanischer Bank genannt, aber die Vorstellung, den heimischen Herd mit Fest und Opfer zu installieren, ist uralt. Den kleinen Geistern, die mit einem bestimmten Ort verbunden waren, mußte auf eine ihnen verständliche Weise mitgeteilt werden, wer jetzt hier wohnen werde und wer dabei nicht gestört, sondern geschützt und gefördert werden solle. Das Fest als die stilisierte Hochform des Lebens bereitete den Ort für den zukünftigen Alltag vor. Hans und Ina hätten sich, wenn sie um Gäste verlegen gewesen wären, jede beliebige Zahl davon aus anderen deutschen Regionen kommen lassen können, und auch der ratgebende, vorbildlich unabhängige Sportsmann aus dem Büro wäre gewiß ein guter Konvive gewesen — auf die Versammlung im Hinterhof hätte gar nicht zurückgegriffen werden müssen —, aber es war ihnen beiden nicht nach Feiern zumute. Der richtige Augenblick dazu war verpaßt. Die Rückkehr von Ina, von ihnen beiden so heiß erwartet, hatte zwar stattgefunden, aber nicht richtig geklappt; so hätte es ein Filmregisseur, der zugleich Lebensregie betrieb, vielleicht ausgedrückt und Ina vielleicht einfach noch einmal abreisen und noch einmal ankommen lassen.