Dazu kam, daß Hans vom Büro ungeachtet der sommerlichen Ferienzeit hart herangenommen wurde, was ihn eigentlich nicht belastet hätte, jung und gesund und hoffnungsfroh, wie er war. Wäre ihm von Ina sofort ein schneller Rhythmus abverlangt worden, er hätte sich ihm mit Freuden unterworfen, aber nun war sie nachdenklich, wollte nicht ausgehen, litt unter der Hitze, hatte auch immer noch mit der Wohnung zu tun, und so ließen sie denn diese Zeit still angehen, und es kam ihnen sogar vor, als sei das jetzt ganz angemessen und anderes gar nicht wünschenswert. Wenn das Pulver naß geworden ist, ärgert sich nur der darüber, der gerade damit schießen wollte. Wer nicht schießen will, bekommt es gar nicht mit.
Die Morgende enthielten während dieser nicht abreißenden Hitzeperiode jedesmal die Verheißung, der Tag könne die Schönheit und Milde der frühen Stunden noch ein wenig länger bewahren. Hans schlief beträchtlich kürzer als im Winter. Wenn die Sonne aufgegangen war, schlug auch er die Augen auf, obwohl Ina im Schlafzimmer schwarze Rouleaus angebracht hatte, die das Licht ausschlossen. Sein Körper wußte dennoch, wann es draußen hell war. Er stand leise auf, ließ Ina in tiefem Schlaf zurück und legte sich im von bläulich-rosigem Morgenlicht wie ein Wasserbehälter schimmernden Wohnzimmer auf das neue Sopha. Wenn er das Fenster öffnete, kam ein leichter Wind herein, der am Tag ganz verschwinden würde, wie sich auch das aprikosenhafte Glühen des Sonnenlichtes bald in hartes, farbschluckendes Weiß verwandelte. Hans nahm ein Bad in diesem Licht, als könne er sich für den ganzen Tag darin erfrischen.
Dann begann er sich fertigzumachen. Das geschah sorgfältig und ohne Eile. Die Männer in seinem Büro pflegten eine gewisse Eitelkeit. Zu den dunklen Anzügen, die jetzt bei der Hitze allerdings hauchdünn sein durften — so dünn, daß der Stoff nicht mehr richtig fiel und den Körper hemdartig umflatterte —, wurden stark gestreifte Hemden getragen, Krawatten durften bunt wie Ostereier aus dem Westenausschnitt herausblitzen, die Hosenträger mußten breit und aus bunter Seide sein. Er war, möglicherweise aus einer gewissen Schüchternheit heraus, einer Bereitschaft, sich einer vorgefundenen Ordnung ohne weiteres unterzuordnen, was seine Kleidung anging, in eine Art Übererfüllung des geltenden Komments geraten. Dieses Sich-für-den-Beruf-Einkleiden war ihm aber auch Hilfe und Vorbereitung, geradezu wie beim Militär: wenn die Ausrüstung schon einmal stimmte, konnte danach nicht mehr viel Übles passieren. Er war, mit naßgebürstetem Haar und gut rasiertem Kinn, das Bild eines jungen Bankangestellten, als er die Wohnungstür behutsam hinter sich schloß. Manchmal machte Ina ihm einen Kaffee, bevor er ging, aber sie hielten es so, daß sie es darauf ankommen ließen, ob sie aufwachte. Sie komme nachts lange nicht zur Ruhe, sagte sie, und finde erst gegen Morgen Schlaf. Um so besser, fand Hans, dann schlief sie eben morgens.
Als er die Treppe hinabstieg, öffnete sich die Tür der eine Etage tiefer gelegenen Wohnung. Bisher hatte Hans dort kein Leben wahrgenommen. Souad sagte, die Leute seien verreist, merkwürdige Leute seien das, mißtrauische, beschränkte Menschen. Er habe ihnen angeboten, ihren Briefkasten zu leeren, aber nein, sie hatten da irgendeine andere Lösung, jemand kam und holte die Post aus dem Kasten, und das finde er nicht gut, fremde Leute im Haus. Für ihn, Souad, sei Post Vertrauenssache. Er sprach mit einem Nachdruck, als habe Deutschland ihm persönlich die Erfindung des Briefgeheimnisses zu verdanken. Hans hatte schon mitbekommen, daß es zu Souads Schicksal gehörte, als hilfreicher Freund unablässig Zurückweisungen einstecken zu müssen. Auch die Rückgabe des Bettes erforderte diplomatische Kunst, und Hans war dennoch überzeugt, daß Souad sich in abendlicher Runde über die Undankbarkeit der neuen Mieter bereits ausgelassen hatte.
Eine junge Frau stand vor ihm, mit halblangem rötlichem Haar, der milchfarbenen Haut der Rothaarigen, mit schönen grauen Augen und vollen blassen Lippen. Sie sah ihn lächelnd und auffordernd an; sie wollte nicht nur knapp wie eine Fremde im Treppenhaus begrüßt werden. Er sei der neue Mieter? Ja, der sei er. Das sei ja nett, sagte die Frau. Immer wenn sie verreist seien, wechsle der Mieter über ihnen, als müsse das in ihrer Abwesenheit geschehen.
Sie betrachteten einander mit Wohlgefallen. Die junge Frau trug ein einfaches olivfarbenes Sommerkleid. Es sah aus, als wolle sie sich in der Wüste bewegen, und paßte vorzüglich zu ihrer Haarfarbe, wie immer bei den Rothaarigen. Ob Männer oder Frauen, sie vergessen nie, an ihr Haar zu denken. Die beiden sprachen noch ein Weilchen, eine unverbindliche, nicht sonderlich geistreiche Treppenunterhaltung, aber Hans entging nicht das Lächeln, das eine bloß gutgelaunte Höflichkeit etwas übertraf. Es lag etwas Amüsiertes darin, und er war sich nicht bewußt, etwas Komisches gesagt zu haben.
«Wollen Sie wirklich so ins Büro gehen?«fragte die Frau schließlich. Hans meinte, seinen dunklen Anzug erklären zu müssen. So sei das in einer Bank, sagte er mit soviel Beiläufigkeit wie möglich, um nicht belehrend zu erscheinen. Nein, das sei ihr schon klar, antwortete sie, er gehe dort im Geschirr, aber ob er denn regelrecht angeschirrt werde dort? Ob man dort ein Zaumzeug anlegen müsse? Sie lachte, ihre Augen blitzten.
«Sehen Sie sich doch einmal an!«
Er folgte ihrem Blick, sah an sich hinunter und stellte fest, daß er die Hosenträger nicht über die Schultern gezogen hatte. Sie hingen tatsächlich zaumzeugartig unter der Jacke hervor. Es sah geradezu aus, als müsse das so sein; die Männer, die auf Laternen und Bäume kletterten, um dort etwas zu reparieren oder zu beschneiden, hatten gleichfalls solche Gurte am Leib. Er errötete, aber war zugleich dankbar. Es machte ihm niemals etwas aus, wenn man über ihn lachte. Er lachte auch jetzt von Herzen mit der jungen Frau, aber er hätte sich ihr beim ersten Mal gern anders präsentiert. Sie schaute ihm zu, wie er Jacke und Weste auszog und die prächtigen Hosenträger über die Schultern streifte. In einem Leben wie dem seinen sei so etwas einfach nur komisch, aber wenn ihr so etwas passiere, dann könne das schon schlimmer werden. Sie sei Schauspielerin und habe neulich in einem engen Kleid auf der Bühne gestanden, dessen Spaghettiträger während des Auftritts abgerissen seien. Anstatt mit ihren Händen zu agieren, habe sie sich beinahe zwanzig Minuten lang das Kleid festhalten müssen. Es sei bei einer Schülervorstellung gewesen, ohnehin eine unruhige Sache.
Sie verabschiedeten sich bei den Mülltonnen. Hans dankte ihr. Es war eine Art Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden, weil sie zusammen gelacht hatten. Diese Begegnung paßte zu dem jungen Morgen.»Ich werde heute Glück haben«, dachte er, als er der Bank zustrebte und sich in das Heer der dunkel Gewandeten eingliederte.
Glück hatte er nicht gerade, das wäre zuviel gesagt, aber es war ein Tag, an dem die Arbeit flüssig lief, denn das Schicksal schien zu wissen, daß er heute mit seinen Hosenträgern an keinem Haken hängenbleiben werde. Als er nach Hause kam, fand er Ina am Telephon. Sie lag auf dem Sopha und war tief in eine Konferenz mit Frau von Klein versunken. Nein, ein Glas mit den Leuten unten trinken konnte sie jetzt nicht, sie war auch nicht angezogen. Müsse das unbedingt heute sein? Hans fand, daß es heute sein müsse, die Verabredung war zu leichthin getroffen worden, um durch Verschiebung dann nicht zu etwas Komplizierterem, weniger Improvisiertem zu werden. Er legte sein Bankornat ab und zog ein Polohemd an, aus dem Eisschrank nahm er eine beschlagene Flasche Weißwein.
An der Tür unten standen zwei Namen: Lilien und Wittekind. Wer von beiden war die Frau? Eine Schauspielerin erwartete gewiß, daß man ihren Namen kannte. Hans ging nicht gern ins Theater. Ihm war bei den heftigen, die Schauspieler und die Zuschauer nicht schonenden Aktionen auf der Bühne stets ein wenig peinlich zumute. Er verstand schon: das mußte gewiß alles so sein, so laut, so roh, so häßlich, aber freuen konnte er sich darüber nicht. Die junge Frau entsprach in ihrer Frische und Geformtheit überhaupt nicht seiner Vorstellung von einer Schauspielerin. Vor der Tür wog er ab, welcher der beiden Namen künstlerischer klinge. Was paßte besser,»die Lilien «oder» die Wittekind«? Beides paßte, aber» die Wittekind «paßte nicht auf die junge Frau, die war etwas Leichteres, Durchsichtigeres, bei» der Wittekind «hörte man schon das Poltern des Bühnenbodens, wenn sie stampfend auftrat —»die Lilien «hingegen tanzte und schwebte.