«Sehen Sie, Souad ist neugierig«, sagte Wittekind so bedeutsam, als habe er Souads ganzes Wesen in diesen Begriff gebannt,»und ich habe gar nichts zu verbergen, und deshalb ist mir diese Neugier ganz besonders lästig.«
Souad fühle sich verpflichtet, über alles im Haus informiert zu sein, sagte Britta, und das nehme manchmal erstaunliche Formen an. Neulich habe Elmar einen Strafzettel für irgendeinen lächerlichen Verkehrsverstoß bekommen. Souad sprach ihn darauf geradezu grob im Treppenhaus an:»Warum haben Sie mir davon nichts gesagt? Warum? Ich habe hier die ganze Polizei unter mir, die Leute fahren in meinem Bus — aber wenn Sie mir nichts sagen, kann ich auch nichts machen. «Sie hätten diesem verletzt klingenden Anwurf verblüfft gelauscht und nichts Rechtes darauf geantwortet, bis ihnen später blitzartig klar geworden sei, daß Souad den Brief aus dem Polizeipräsidium offenbar geöffnet habe.
«Wir sind zunächst nicht darauf gekommen, weil man so etwas nicht für möglich hält«, sagte Elmar, der diesen Zwischenfall nur von der komischen Seite nehmen wollte. Britta ließ diese Sicht gelten, obwohl sie sie ganz und gar nicht teilte, aber sie wollte zeigen, daß sie in Elmars Haltung den herausgehobenen Standpunkt einer höheren Geistigkeit erkenne.
«Wir haben ein neues Schloß an den Briefkasten machen lassen, und dasselbe empfehle ich auch Ihnen«, sagte sie in der dem Fall angemessenen gleichgültigen Kühle. Elmar Wittekind gestattete aber nicht, daß in seiner Gegenwart triviale Themen oder aber triviale Themen ohne höheren philosophischen Bezug erörtert wurden. Ein Gespräch über den Hausmeister war nur würdig, wenn sich darüber der Zugang zum Großen und Ganzen der Gegenwartsfragen öffnete. Man trank übrigens nicht wenig, die Hitze machte alle durstig. Die von Hans mitgebrachte Flasche, ein italienischer Weißwein, war längst geleert. An seiner Stelle stand jetzt eine Pfälzer Riesling-Literflasche, die viel besser war als der Italiener, wie Hans in kurzer Beschämung feststellte.
«Ich vermute, Souad ist ein Fall von Überanpassung«, sagte Elmar Wittekind in seiner festen Freundlichkeit. Souad habe mit ganzer Seele den Westen gewählt. Er setze auf den Westen. Er habe den orientalischen Zuständen, aus denen er stamme, bewußt den Rücken gekehrt, natürlich mit Opfern, unter Zerreißung von Bindungen, nicht wahr? Souad sei wegen dieser Opfer — die von der anderen Seite womöglich gar Verrat genannt würden — im Westen aber zum Erfolg verurteilt. Er stehe unter dem Druck, daß sich die Entscheidung für den Westen gelohnt haben müsse. Hans kannte diesen besonderen Gebrauch des Wortes» gelohnt «aus seinem Abitur, als ihn der freundliche junge Griechischlehrer behutsam durch die mündliche Prüfung gehoben hatte und zu dem Gestammel, mit dem Hans seine Fragen beantwortete, sagte:»Die Unterscheidung, die Sie zwischen Platon und Sokrates machen, hat sich gelohnt. «Auch wo es nicht um Geld ging, konnte sich etwas» lohnen«.
Souad sehe aber, daß ihm weite Regionen westlicher Denkungsart verschlossen geblieben seien — ein zwangsläufiges Erlebnis jedes Ausländers, der nach Jahrzehnten der Anpassung im neuen Land die letzten und nun unübersteigbaren Mauern entdeckt, die ihn von der vollständigen Assimilation trennten —, das sei übrigens auch seine, Elmars, Erfahrung in Paris gewesen, und deshalb sei er wieder nach Deutschland zurückgekommen, obwohl er in Deutschland viel weniger Verbindungen als in Frankreich besessen habe.
«Souad will nicht bei den Verlierern sein«, sagte Hans, indem er ein Schlagwort der gegenwärtig in den Zeitungen geführten Debatte aufgriff: mit Souad hatte das aber gar nichts zu tun, es bezog sich auf den Guerrillero-Krieg, den die Islamisten mit Hilfe von Attentätern gegen Nordamerika führten, und niemand hatte Souad im Verdacht, hier mehr als grundsätzlich landsmannschaftliche Sympathien zu pflegen, wie man sie auch für die heimische Fußballmannschaft behält, obwohl man schon längst nicht mehr weiß, wie sie sich in den letzten Jahren geschlagen hat.
«Das sind Spinner«, sagte Souad, wenn man von einem Bombenattentat erfuhr, mehr Empörung durfte ein taktvoller Mensch von ihm nicht verlangen.
«Man möge mit dem Begriff Verlierer in weltgeschichtlichen Zusammenhängen sehr vorsichtig sein«, sagte Elmar Wittekind aus seiner Schattigkeit heraus, während die Lichtstreifen um seinen Kopf rötlich zu strahlen begannen, denn die Sonne ging unter, das Licht wurde schwächer, seine Züge begannen hervorzutreten. Er erinnere daran, daß die Kämpfe der Geschichte nicht nach den Punktsystemen von Linienrichtern gemessen würden. In vielen Fällen sei es folglich unmöglich, Gewinner und Verlierer festzustellen. Wenn eine Seite verliere, dann heiße dies meist nur, daß der Kampf noch nicht zu Ende sei. Für verlorene Partien würde in der Geschichte immer Revanche gefordert, manchmal freilich fünfhundert Jahre später.
«Man hat den Krieg mit dem Schachspiel und das Schachspiel mit dem Krieg verglichen«, sagte Wittekind, der jetzt dort angelangt war, wo er sich am wohlsten fühlte. Seine Freundin, die sich behaglich ausstreckte, sah auffordernd zu Hans hinüber; sollte das heißen, er möge die Ohren spitzen?
«Das ist ein schöner Vergleich, wenn man auch den wichtigen Unterschied festhält: Der Krieg ist ein Schachspiel, bei dem die geschlagenen Figuren auf dem Brett bleiben. «Den Sieger erwarte die schlimmste Last: Nun habe er die Verlierer auf dem Hals. Ein Verlierer lasse sich nicht mehr abschütteln.»Denken Sie an die Griechen«, sagte Wittekind zu Hans, der nie an die Griechen dachte,»was geschah, als sie die Perser besiegt hatten? Sie persifizierten sich.«
«Aber hieße das nicht, daß wir — sollten die Islamisten doch irgendwie die Verlierer sein — «, ganz mochte Hans sich von der schönen These, die soviel Beruhigendes hatte, nicht lösen,»daß wir uns dann islamisieren würden?«Ein Staunen war seinen Worten anzuhören, das über Widerspruch weit hinausging.
Das täten wir doch schon, antwortete Wittekind voll heiterer Genugtuung. Schon heute zeichneten sich Züge einer kommenden Theokratie in Nordamerika ab, der Tag sei nicht fern, an dem der Präsident gemeinsam mit den Deputierten und Senatoren zum Sonntagsgebet fahre — eine Kuppel habe das Capitol ja bereits. Er könne sich gleichfalls gut vorstellen, daß aus dem amerikanischen Feminismus neue Formen der Abgrenzung und Aussonderung der Frauen hervorgingen, die vom islamischen Harem, was schließlich» Heiligtum «heiße, gar nicht so weit entfernt seien.
«Gut, die Amerikaner«, rief Hans und dachte an seinen scharf gebügelten, muskelhart trainierten Kollegen mit der praktischen Lebensphilosophie,»aber wir Europäer …«
«Wir sind keine Europäer mehr«, sagte Wittekind und verbarg seine Genugtuung nicht,»wir sind Phönizier. Wir haben die europäische Kultur aufgegeben und die Nachfolge der phönizischen Kultur angetreten. «Die Europäer hätten alle wesentlichen kulturellen Merkmale des weitgehend untergegangenen, aber wirkmächtig in die Geschichte hineinverdampften phönizischen Volkes zu neuer Blüte und zu einer ungeahnten Entfaltung geführt.
Britta schloß die Augen in einem Akt gesteigerten Zuhörens, Hans bemerkte aber trotz des Dämmerns, daß sich ihres Körpers eine atmende Ruhe bemächtigte, die dem entspannten Schläfchen einer Siesta in der Hitze des Tages auffällig glich. Sie hatte sich tatsächlich während der oft quälend langweiligen Proben eine Technik angeeignet, aufs höchste konzentriert zu erscheinen und zugleich in eine kontrollierte Ohnmacht abzutauchen.